Transhumanismus

Die digital verkümmerte Vernunft

Während die Kritik am Transhumanismus wächst, macht nun der Longtermismus von sich reden. Beide verbindet die Gefangenschaft in der Immanenz, die zwingt, das Glück allein im Diesseits zu suchen. Von Gott und seiner Ewigkeit will man nichts wissen.
Techno-Utopien des 20. Jahrhunderts
Foto: agsandrew via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Wie gefährlich sind die Techno-Utopien des 20. Jahrhunderts und welche Auswirkungen haben sie auf die Entwicklung der Gesellschaft?

Als die „toxische Ideologie des Silicon Valley“ bezeichnet die Technik-Redakteurin Verena Dauerer den Longtermismus. Gefährlich sei diese, die Techno-Utopien des 20. Jahrhunderts fortsetzende Denkungsart zunächst insofern, als sie Tech-Milliardäre infiziert habe und daher machtvoll daherkomme. Man darf sie also nicht einfach ignorieren. Inhaltlich sei sie ebenfalls elitär: Aus einem Denken in besonders langen Zeiträumen erwachse eine Perspektive, die heutige Menschenmassen relativiert und zugleich primär die reichsten Individuen auf eigene Weise zu Götzen erhebt. Dauerer erläutert: Die longtermistische Bewegung „sieht im Klimawandel kein existenzielles Risiko für die Zukunft der Menschheit, sondern nur eine Lappalie. Der Erderwärmung fällt wahrscheinlich ein Großteil der Menschheit am Ende zum Opfer, aber die Experten und Superreichen überleben das schon, weil diese eben hyperoptimiert und vor allem wichtig für den Fortbestand der Menschheit sind und somit unersetzlich.“

Geprägt hat den Begriff „Longtermismus“ (von englisch longterm = langfristig) der schwedische Transhumanist Nick Bostrom. Ihm zufolge haben in der jüngeren Vergangenheit unterschiedlichste Katastrophen Millionen von Menschenleben gefordert. Das werde auch in der einen oder anderen Weise so weitergehen; doch das sei im Vergleich dazu, wie viele Menschen in der Zukunft existieren könnten, einfach nicht so gravierend. Die gigantisch verschobenen Langfristigkeitsperspektiven des Longtermismus verschieben fast zwangsläufig auch die ethische Perspektive. Diese gerät in der Konsequenz in eine Schieflage, wie man aus der gewohnten Sicht auf die Menschheit in Vergangenheit, Gegenwart und in nicht zu ferner Zukunft in einem doppelten Sinn sagen muss. Die für die überschaubare Menschheitsgeschichte fassbaren Menschenbilder und nachgerade der Wert des Individuums gemäß den so oder so verstandenen Menschenrechten auf diesem Planeten geraten allesamt ins Wanken.

Der „kosmische Christus“

Indem der Longtermismus sozusagen ins Kosmische ausgreift, tut er etwas Ähnliches wie die Religionen und herkömmlichen Philosophien bei ihren Sinnbeschreibungen; es sei hier nur exemplarisch an das Reden vom „kosmischen Christus“ erinnert. Indes – diese neue Philosophie denkt in kosmischen Größen in rein immanentem Rahmen: Was dabei herauskommt, ist eine pseudoreligiöse Utopie, die von narzisstischer Aufblähung ihrer Schöpfer und Vertreter zeugt und eigentlich zum Lachen wäre, hätte sie nicht so gefährliche Konsequenzen in ethischer und rechtlicher Hinsicht, sofern sie sich in unserer immer säkulareren Kultur durchsetzt oder durchgesetzt würde. Die Ausdehnung der Kategorien Raum und Zeit ins „Kosmische“ und „Langfristige“ führt nämlich zu einer Relativierung der Grundwerte bisheriger menschlicher Kultur und insbesondere Religion.

So argumentiert etwa Will MacAskill, Philosophieprofessor und Vorreiter der neuen Bewegung: Wer in 1000, 10.000 oder gar in Millionen von Jahren denke, konzentriere sich auf das langfristige Potenzial der Menschheit. Darum seien bereits im Hier und Jetzt die Weichen zu stellen, dass die Menschheit als Spezies überdauern und über sich hinauswachsen, ja hypertechnisiert das Universum bevölkern könne. Bedeute doch aus moralischer Sicht ein zukünftiger Mensch ebenso viel wie ein Mensch heute! Der Denkfehler liegt hier eigentlich auf der Hand: Die im doppelten Sinn „phantastischen“ Cyborgs von überübermorgen lassen sich eben keineswegs mit den individuellen Menschen unserer Zeit verrechnen – zumal überhaupt nicht klar ist, wie viel Zeit der Menschheit auf diesem Planeten noch bleibt, und zwar unabhängig davon, ob man nun in den Kategorien säkularer oder christlicher Apokalyptik denkt.

Die Menschenwürde wird bestritten

Gefährlich ist der Longtermismus namentlich für die christliche Auffassung von Mensch und Welt, die bekanntlich auf der biblischen Überzeugung beruht, dass in Jesus Christus Gott selbst Mensch geworden ist. Wird wie schon im Transhumanismus nun auch in seinem longtermischen Ableger zusammen mit dem Gottesgedanken die Menschwerdung Gottes bestritten, so läuft dies auch auf eine Bestreitung der Menschenwürde hinaus. Zwar behaupten die digitalisierungseuphorischen Longtermisten, ihre Logik würde ja die Menschheit im Ziel aufwerten wollen. Aber für ein fernes, im wahrsten Sinn des Wortes „utopisches“ Ziel sind sie bereit, mehr oder weniger ganze Generationen von Menschen zu opfern oder zumindest in ihrem Wert einigermaßen zu vergleichgültigen. Theologie und Kirche können zu einer solchen Philosophie nur ein entschlossenes Nein sagen.

Die logische Fragwürdigkeit des Longtermismus zeigt sich nicht zuletzt dort, wo eine Langfristigkeit für Individuen in den Blick gerät: beim Gedanken der Unsterblichkeit. Wie unsauber er heutzutage unter dem Einfluss von Transhumanismus und Longtermismus schon oft aufgefasst wird, kann man beim Wikipedia-Artikel „Unsterblichkeit“ nachlesen: Er ist nach Aufbau und Inhalt durchgehend von einem verkehrten Unsterblichkeitsbegriff geprägt, der sich hauptsächlich an eine Perspektive der „Nichtsterblichkeit“ hält. Auch in der ARD-Mediathek findet sich ein Beitrag, der überschrieben ist: „Länger leben – So realistisch ist Unsterblichkeit“. Als wäre ein verlängertes Leben identisch mit Nichtsterblichkeit – und wäre eine solche gleichzusetzen mit der in der traditionellen Philosophie gemeinten Seelenunsterblichkeit!

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Auf Gott bezogene Wesen

Allein solche Grundfehler im Begrifflichen illustrieren hinreichend, in welche intellektuellen Seichtgebiete die digital verkümmerte Vernunft führt. Schon Jugendliche können begreifen: 1. Eine Lebensverlängerung mündet in einen etwas späteren Tod, aber keineswegs in eine Nichtsterblichkeit. 2. Als Möglichkeit behauptete Nichtsterblichkeit im Sinne unbegrenzter Lebensverlängerung ist ein verlogener Gedanke, denn naturwissenschaftlich ist klar, dass nicht nur unser Planet, sondern alle Galaxien unter dem Vorzeichen der Vergänglichkeit stehen. 3. Eine trotzdem hypothetisch gedachte Nichtsterblichkeit bedeutet die Fortsetzung eines Lebens, das durch das Wegdenken des Todes gleichwohl immer noch von den grundsätzlichen Einschränkungen irdischer Existenz geprägt bleibt – also von körperlichen und psychischen Krankheiten, Schmerz, Altern und Vulnerabilität; den Tod wegschieben heißt mitnichten, der Sterblichkeit im weiteren Sinn entfliehen können. 4. Philosophisch und theologisch gesehen, gerät die Transzendenz oder Metaphysik im Longtermismus auf unverantwortliche Weise als Denkkategorie völlig aus dem Blick: Dass Menschen als geistige Wesen grundlegend auf Gott bezogen und dabei von ihm entfremdet sein könnten, sollte zumindest im Sinne des Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant erwogen werden, der um den allen angeborenen Hang zum Bösen wusste.

Verzweiflung des unerlösten Menschen

Die begrifflichen und logischen Fehler des Longtermismus zeugen indirekt von einer seelischen Fluchthaltung, nämlich auf modernste Weise von der seit dem Aufblühen des Industriezeitalters verbreiteten Tabuisierung des Todes. Sie sind unverkennbare Anzeichen dessen, was der dänische Philosoph Sören A. Kierkegaard vor bald 200 Jahren als grundlegende Verzweiflung des unerlösten Menschen diagnostiziert hat. Dieses existenzielle Verzweifeltsein in seinen unterschiedlichen Varianten lässt sich laut Kierkegaard nur beseitigen durch eine seelische Entscheidung für den Glauben an den Gott der Liebe, wie er sich in Jesus Christus gezeigt hat. Gläubige entkommen der „Krankheit zum Tode“, indem sie die im Evangelium eröffnete Versöhnung mit Gott annehmen und sich von daher gründen in jener transzendenten Macht, die alles Seiende geschaffen hat.

Glauben als Erfordernis der Vernunft

Glauben ist dabei nicht etwa als irrationale Haltung abzuweisen, sondern umgekehrt ein Erfordernis der Vernunft, wie das schon Kant dargelegt hat. Allein der Gedanke der „Welt“ oder des „Kosmos“, dessen grundlegende Endlichkeit naturwissenschaftlich auf der Hand liegt, leitet die Vernunft logisch zum Weiterdenken über die Welt hinaus an. Freilich kann die Vernunft laut Kant keine allgemein verbindlichen, „objektiven“ Antworten liefern, aber sie kann die metaphysischen Grundfragen auch nicht abweisen. Es gibt gewiss eine immanente Unendlichkeit; beispielsweise kommt man von einem bestimmten Punkt des Universums aus schließlich wieder bei demselben an, wenn man sich beständig immerfort in einer Linie bewegen würde. Davon ist aber die transzendente Unendlichkeit zu unterscheiden, die Gottes Ewigkeit charakterisiert. Der immerhin grundsätzlich denkbare Gottesbegriff selbst steht für diese lebendige, schöpferische Unendlichkeit, die vom menschlichen Verstand nicht fassbar, aber doch im Ansatz erahnbar ist; hierauf gründet alle Religion. Der aufstrebende Longtermismus dagegen ist purer Unglaube. Seine Axiome und Schlussfolgerungen sind ein beredtes Beispiel dafür, in welche vermeintlichen Tiefen und gefährlichen Untiefen ein Denken abseits von philosophischen und theologischen Traditionen geraten kann.

Der Autor ist evangelischer Pfarrer i.R., außerplanmäßiger Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg und Publizist.

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