Wenn der „Preis“ des Menschen bestimmt wird, reden wir nie über einen konkreten Menschen mit Gesicht und Biographie. Wir sprechen vom „Wert eines statistischen Lebens“ (WSL). Wir rechnen also nicht – um mit Immanuel Kant zu sprechen – den homo phaenomenon oder den homo noumenon ab, sondern bilden einen „homo statisticon“, der abstrakt genug ist, um die Pietät zu wahren, der jedoch konkret genug ist, um mit ihm kalkulieren zu können, etwa die Maximalkosten einer Schutzmaßnahme.
Was kostet der Mensch?
Die Preise für den WSL sind sowohl hinsichtlich des jeweils angewandten Verfahrens als auch in Bezug auf die Untersuchungsregion und die sozialen Merkmale der zugrundeliegenden konkreten Menschenleben höchst unterschiedlich. Hannes Spengler nennt in seiner Studie Kompensatorische Lohndifferentiale und der Wert eines statistischen Lebens in Deutschland einen WSL-Mittelwert von 4,5 Millionen Euro für Deutschland und für die USA von sieben Millionen Euro. Zugleich berechnet er selbst einen Mittelwert von 1,65 Millionen Euro für einen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und weist auf einen Unterschied bezüglich des Geschlechts hin: bei einem Mann beträgt der WSL 1,72 Millionen Euro, für eine Frau von 1,43 Millionen Euro – sowohl die Einkommensdifferenzen als auch die höhere Risikoaversion weiblicher Arbeitnehmer wirkt sich hier auf den je unterschiedlichen WSL aus.
Auch die Hautfarbe kann zu Unterschieden führen, wie eine US-Studie mit dem Titel „Racial Differences in Labor Market. Values of a Statistical Life“ (2003) offenbart, die das Leben eines weißen Arbeitnehmers doppelt so hoch bewertet wie das eines schwarzen Arbeitnehmers. Noch größere Differenzen zeigen sich in Umfragen, die auf die Zahlungsbereitschaft von Menschen abheben, tödliche Risiken von der Gemeinschaft abzuwenden, von denen sie nur mit einer bestimmten, sehr geringen Wahrscheinlichkeit selbst betroffen wären, oder die ganz konkret danach fragen, wie viel einem Menschen die Aufopferung eines Lebensjahres wert wäre beziehungsweise umgekehrt, wie viel Lebenszeit sie für eine Million Euro hergeben würden.
Ökonomische Betrachtung
Andrea M. Leiter, Magdalena Thöni und Hannes Winner analysieren in „Der ,Wert‘ des Menschen. Eine ökonomische Betrachtung“ (2010) fünf verschiedene WSL-Studien aus dem Zeitraum von 1986 bis 2007 und ermitteln so Werte zwischen 1,7 und 7,4 Millionen Euro; sie selbst kommen auf der Basis von Schmerzensgeldzahlungen auf durchschnittlich 1,7 Millionen Euro, bei einem Minimum von 0,6 und einem Maximum von 5,3 Millionen Euro. Sie summieren dabei die zugesprochenen Entschädigungen für den Verlust von Gliedmaßen und Organen auf, bis hin zu einem funktionsfähigen Körper. Noch einen Schritt weiter in Richtung einer rein materialistischen Bewertung geht eine Analyse der Einzelpreise menschlicher Körpersubstanzen auf der molekularen Ebene. Der Biochemiker Harold J. Morowitz berechnet für den durchschnittlichen Menschen von 75 Kilo und knapp 25 Kilo Trockenmasse einschließlich wertvoller Enzyme und Peptide einen Katalogpreis von sechs Millionen Dollar.
Abgesehen davon: Ist das, was da verpreist wird, tatsächlich der Mensch, und sei es auch nur der „statistische Mensch“ (falls dieser Ansatz denn überzeugt)? Können, ja, dürfen wir überhaupt so rechnen, den „Wert“ eines Menschen beziffern? Gilt nicht: Jeder Mensch ist unendlich wertvoll? Doch mit dem Wert „unendlich“ lässt sich schlecht kalkulieren und in Zeiten knapper Ressourcen müssen Entscheidungen getroffen werden: Baut man den Lawinenschutz eher in Dorf A, wo 30 Menschen leben und eine barocke Kirche mit kunsthistorisch bedeutungsvollem Altar steht, oder in Dorf B, wo 33 Menschen leben und eine Waschbetonturnhalle aus den 1970er Jahren? Neigt man zur Präferenz für Dorf A, muss man sich vor Augen führen, dass jeder der drei „zusätzlichen“ Menschen einen Wert, der in Geld ebensowenig ausgedrückt werden kann wie der Wert der Kirche samt Ausstattung. Denn jeder Mensch ist unendlich wertvoll!
Welches Äquivalent gäbe es wohl für einen Menschen?
Das meint zumindest Immanuel Kant in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Er spricht dem Menschen „einen innern Wert, d. i. Würde“ zu, was zugleich seine Verpreisung ausschließt, denn: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ So wie der Mensch. Denn: Welches Äquivalent gäbe es wohl für einen Menschen? Unser deutsches Grundgesetz nimmt den Würdebegriff an prominenter Stelle auf (gleich zu Beginn nämlich) und deutet ihn im Anschluss an Kants Humanitas-Formel des Kategorischen Imperativ („Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“): Die Würde des Menschen ist demnach verletzt, „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“ (Dürigsche Objektformel). Und sind nicht zwei Millionen Euro (um mal einen Preis zu nennen) gerade eine solche „vertretbare Größe“?
Denken wir darüber hinaus an das judeo-christliche Menschenbild, das sich schöpfungstheologisch als einzige Gnadengabe skizzieren lässt, wird der Gedanke einer Monetarisierung des Menschen geradewegs absurd. Der Mensch ist als Bild Gottes gedacht, wobei Gottebenbildlichkeit keine Qualität des Menschen ist, sie besteht nicht in etwas, das der Mensch ist oder tut, sondern sie besteht, indem der Mensch selber und als solcher als Gottes Geschöpf existiert. Er wäre nicht Mensch, wenn er nicht Gottes Ebenbild wäre. Er ist Gottes Ebenbild, indem er Mensch ist. Damit ist die Würde des Menschen unveräußerlich, nicht von ihm zu trennen, weil die Gottebenbildlichkeit nicht von ihm zu trennen ist. Unveräußerlich heißt insbesondere auch: nicht in Geld aufzuwiegen.
Ebenbild Gottes
Der Mensch ist zudem als geschaffenes Ebenbild Gottes von seinem Ursprung, seinem Wesen und seiner Zielbestimmung her nicht eigenbestimmt, seine Würde ist, so Martin Luther, eine „dignitas aliena“, eine „fremde Würde“. Zugleich schafft Gott den Menschen in Freiheit, die jedoch, in richtigem Modus gelebt, paradoxerweise stets auf ihren Charakter als Gnadengabe verweist und damit nur im Bewusstsein einer Bindung des Menschen an Gott sinnvoll gelebt werden kann. Dieses Dependenzverhältnis zeigt sich im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32), denn der Sohn hat in Verkennung der Abhängigkeit vom Vater die Freiheit seiner Sohnschaft nur im negativen Modus gelebt. Er kann schließlich seine Beziehung zum Vater nicht mehr auf seine eigene Sohnes-Würde bauen, denn diese hat er verloren. So bekennt er: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße“ (Lk 15,21). Er muss hoffen, dass der Vater seinerseits die Beziehung neu aufbaut. Dies tut er, indem er von sich, von seiner Würde, von seinem Besitz gibt. So antwortet der Vater auf das Bekenntnis des Sohnes: „Holt schnell das beste Gewand, und zieht es ihm an, steckt ihm einen Ring an die Hand, und zieht ihm Schuhe an“ (Lk 15, 22). Gewand, Ring und Schuhe sind Besitztümer des Vaters, auf die der Sohn eigentlich keinen Anspruch hat; er empfängt sie aus Gnade. Der Sohn steht für den Menschen schlechthin, der von Gott seine Würde als Geschenk erhält. Unendlich wertvoll, ohne Preisschild.
Unvollständiges Kalkül
Andererseits: Was nützte es den Hinterbliebenen eines Unfalls oder einer Katastrophe, sagte man ihnen: „Wir können Ihnen nichts zahlen, denn mit Geld lässt sich Ihr Leid ohnehin nicht aufwiegen! Machen Sie sich nichts daraus und denken Sie daran: Der Verstorbene ist unendlich wertvoll! Ein Geschenk Gottes!“ Wäre das wirklich ein Trost, der dem Menschen gerechter würde? Ich denke nicht. Wir sollten aber immer bedenken, dass wir mit noch so genauen und gut gemeinten Bewertungsverfahren nie wirklich den Menschen in seinem Wesen treffen können.
Schließlich gilt, was in einer Anekdote um den Wiener Kabarettisten Georg Franz Kreisler gesagt wird, der sich in den 1950er Jahren vom Institut für Gerichtsmedizin in Wien errechnen ließ, wie hoch der Materialwert eines Menschen sei. Das Institut kam damals auf eine Summe von 40 Schilling, schloss aber seine Antwort mit folgender Bemerkung: „In diesen Zahlenangaben sind die Herstellungskosten des Menschen nicht enthalten.“
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