Exzellenz, Österreichs Verfassungsgerichtshof hat das seit 1975 geltende Verbot der „Hilfeleistung zum Selbstmord“ vergangenes Jahr als verfassungswidrig bezeichnet und mit Wirkung zum 31. Dezember dieses Jahres aufgehoben. Wie sehr hat Sie diese merkwürdig spät anmutende Einsicht der Höchstrichter erstaunt?
Erstaunt war ich nicht. Das wäre zu positiv. Staunen ist ja der Ursprung der Philosophie. Ich war erschüttert. Noch 2016 vertrat der Verfassungsgerichtshof die Ansicht, der österreichische Weg verstoße nicht gegen die Verfassung. Und dann fällt er ein solches Urteil. Ich kenne einige der Höchstrichter. Was ich da gefühlt habe, lässt sich nur schwer in Worte fassen.
Als Vorsitzender der Österreichischen Bischofskonferenz haben Sie in einer ersten Reaktion von einem „Kulturbruch“ gesprochen. Warum?
Weil das Sterben ein ureigener Akt des Lebens selbst ist. Das Leben hat das Recht, im Sterben selbst zu Ende zu gehen. Wo das Sterben stattdessen institutionalisiert wird, erst recht, wo jemand dabei „nachhilft“, wird das Sterben dem Menschen entfremdet und aus dem Bereich des zum Leben Gehörenden ausgelagert. In Österreich gibt es das vielzierte Wort von Kardinal König: An der Hand und nicht durch die Hand eines Menschen soll jemand sterben. Das ist ungebrochene Sterbekultur. Vom heiligen Franziskus, meinem Ordensvater, wird gesagt, er habe am Ende seines Lebens den Tod als Bruder begrüßen können, weil er im Leben oft gestorben sei. Ein Mitbruder, der 90 Jahre alt wurde und den ich am Sterbebett gefragt habe, ob er sich vor dem Sterben fürchte, hat mir gesagt: „Nein.“ Seit seinem 13. Lebensjahr habe er jeden Tag um eine glückliche Sterbestunde gebetet; nun verlasse er sich auf dieses Gebet. Wir müssen wieder lernen, um eine gute Sterbestunde zu beten und das auch liturgisch wieder verankern. Aber es gibt noch einen weiteren, wichtigen Aspekt.
Nämlich?
Mit der Institutionalisierung der Suizidhilfe beraubt der Staat die Gesellschaft als Ganze und die Menschen als Einzelne der Todeserfahrung. Der Wiener Philosoph Fridolin Wiplinger, der mit einundvierzig Jahren plötzlich verstorben ist, hat kurz vor seinem Tod noch ein Buch mit dem Titel „Der personal verstandene Tod“ veröffentlicht. Dort schreibt er, die Erfahrung des Todes mache nicht der, der stirbt, sondern der, dem ein lieber Mensch sterbe. Die Erfahrung des Todes, die gehört ebenfalls zum Leben. Ich habe das selbst beim Sterben meiner Eltern erleben dürfen. Mein Vater war der erste Mensch, den ich sterben gesehen habe. Natürlich war das schwer, sehr schwer sogar. Aber ich durfte auch die Erfahrung machen: Aus seinem Sterben schöpfte ich Leben. Auch als Seelsorger habe ich Menschen kennen gelernt, die die Kraft erhielten, ihr Leben zu ändern, nachdem ihnen ein lieber Mensch gestorben ist. Möglich ist das durch die Auferstehung, die ja ein christliches Grundprinzip ist.
Sie sind auch Philosoph, wurden mit einer mit summa cum laude bewerteten Arbeit über Einheit und Vielheit bei Duns Scotus promoviert und haben als Professor an der Päpstlichen Universität des Franziskanerordens in Rom sowie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Heiligenkreuz gelehrt. Was spricht aus philosophischer Sicht gegen den Suizid und die Hilfe dazu?
Als Philosoph würde ich mich nicht bezeichnen. Aber ich bin gerne in die Schule der Philosophie gegangen und habe auch vieles gelernt. Leider ist die klassische Seinslehre, wie sie etwa in den Axiomen „omne ens est bonum“ oder „omne ens est verum“ zum Ausdruck kommt, in Vergessenheit geraten, und auch in der Theologie wurde sie weitgehend aufgegeben. Dadurch wurden wichtige Einsichten verschüttet. Der Mensch, insofern er Mensch ist, ist gut. Das gilt selbst für Mörder. Insofern der Mensch ein Mörder ist, ist er natürlich schlecht, aber insofern er Mensch ist, ist auch der Mörder gut. Deswegen war ich immer schon gegen jegliche Art von Todesstrafe. Die Kirche hat hier erst kürzlich den Katechismus geändert. Und weil der Mensch, insofern er Mensch ist, gut ist, steht es dem Menschen nicht zu, sein Ende selbst festzusetzen oder zu einem anderen zu sagen: „Du sollst nicht sein“. Die Möglichkeit der Unendlichkeit des Seins kann auch der Nichtgläubige nicht kategorisch ausschließen. Nach meinem Verständnis handelt es sich um einen Schritt in eine andere Wirklichkeit hinein. Diese Schwelle selbst übertreten oder dabei jemandem assistieren zu wollen, wäre Anmaßung. Und noch etwas sollten wir bedenken.
Klären Sie uns auf!
Jeder Mensch ist einmalig. Heute sind viele darauf bedacht, dass bedrohte Spezies nicht aussterben. Und da gibt es die Spezies Mensch, in der jedes einzelne Individuum ein einzigartiges, unwiederholbares und unwiederbringliches Wesen ist. Das ist doch ein Widerspruch. Diese Einmaligkeit des Menschen, sie allein müsste uns schon genug Ehrfurcht einflößen, um dem Tod nicht ins Handwerk pfuschen. Also philosophisch würde ich mit der klassischen Seinslehre sowie der Einmaligkeit und Einzigartigkeit des Menschen argumentieren.
Befürworter der Suizidhilfe kontern das häufig von Christen ins Feld geführte Argument, das Leben sei ein Geschenk, oft damit, Geschenke könne man auch zurückgeben? Was antworten Sie?
Das wäre ein unfreundlicher Akt, oder? Allerdings tue ich mich ohnehin schwer mit dem Geschenkbegriff. Das Leben ist doch eher eine Gabe. Und in jeder Gabe steckt auch eine Aufgabe. Die zu entdecken, ist ein höchst sinnvolles, lebenserfüllendes Projekt.
Immanuel Kant behauptet in seiner Ethik-Vorlesung: „Der Mensch kann über sich selbst nicht disponieren, weil er keine Sache ist. Der Mensch ist nicht Eigentum von sich selbst. Das ist eine Kontradiktion. (...) Wäre er aber nun ein Eigentum von sich selbst, so wäre er eine Sache, über die er Eigentum haben kann.“ Der österreichische Verfassungsgerichtshof scheint das anders zu sehen. Ist sein Urteil kontrafaktisch?
Kant hat Recht. So ist es. Nur behandelt der Verfassungsgerichthof die Rechtswissenschaft wie eine Vergleichswissenschaft. Es gibt ein Begehren, jemand fühlt sich diskriminiert. Nun wird das verglichen mit der Verfassung, die eine positivistische ist. Stellt man fest, das passt nicht, wird es passend gemacht. Fragen, wie Kant sie behandelt, stellt sich, fürchte ich, das Höchstgericht nicht. Ich finde das tragisch. Denn damit verliert der säkulare Staat den letzten Ort, an dem solche Fragen noch gestellt und an dem sich mit ihnen auseinandergesetzt werden könnte.
Ludwig Wittgenstein, der drei seiner sieben Geschwister durch Suizid verlor und dessen philosophischer Nachlass in die Liste des Weltdokumentenerbes aufgenommen wurde, notierte in seinem Tagebuch am 10. Januar 1917: „Wenn der Selbstmord erlaubt ist, dann ist alles erlaubt. Wenn etwas nicht erlaubt ist, dann ist der Selbstmord nicht erlaubt (...) Denn der Selbstmord ist sozusagen die elementare Sünde.“ Markiert die Aufhebung des Verbots der Beihilfe zum Suizid also gar das Ende der Moral?
Das Ende der Moral? Nein, aber es ist natürlich ein schwerer Schlag. Der Präsident des Verfassungsgerichtshofs hat ja auch gesagt, Moral sei keine Kategorie des Verfassungsrechts. Dennoch wird das Christentum deswegen nicht aussterben. Meine Hoffnung ist vergleichbar mit dem, was der sogenannte Diognetbrief, der wohl aus dem 2. Jahrhundert stammt, zum Ausdruck bringt. In dessen fünften Kapitel geht es um die Frage, was Christen auszeichnet. Der unbekannte Autor listet dort auf, was Christen alles nicht tun. Da heißt es zum Beispiel: „Sie heiraten wie alle anderen und zeugen Kinder, setzen aber die Geborenen nicht aus.“ Heute könnte man vielleicht sagen: Christen heiraten wie alle anderen und zeugen Kinder, treiben sie aber nicht ab. Die Moral zeigt sich hier in dem, was Christen nicht tun. Auf dass Christen keinen Gebrauch von der Suizidhilfe machen, das hoffe ich schon. Natürlich braucht der Sterbende ein Umfeld, das ihm das nicht unnötig schwer macht. Ein lebensbejahendes Umfeld. Als Kirche werden wir uns bemühen, ein solches Umfeld weiter zu kultivieren. Als meine Mutter auf den Tod zuging, da habe ich ihr immer wieder gesagt: „Es ist so wichtig, dass Du, so wie Du jetzt bist, da bist. Ich will Dich nicht leiden lassen, aber für uns ist das wichtig, dass Du da bist.“ Diesen Zuspruch brauchen Sterbende. Ist der da, dann stellt sich Frage nach dem Suizid oft gar nicht. Darum ist die ganze Sache mit der Freiwilligkeit des Suizids eine sehr ambivalente Angelegenheit. Das ist sehr abhängig vom Umfeld. Kurz: Die Moral ist nicht am Ende. Aber sie ist gefordert, jetzt sogar in besonderer Weise.
Viele Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime befinden sich in katholischer Trägerschaft. Wenn nun Patienten oder Bewohner dort künftig von dem vom Verfassungsgerichtshof mit seinem Urteil begründeten Quasi-Recht Gebrauch machen wollen, Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen, scheinen Konflikte vorprogrammiert. Haben Sie eine Idee, wie diese sich auflösen lassen?
In der Tat ist das eine der ganz großen Herausforderungen. Die Gefahr, dass Institutionen in christlicher Trägerschaft unter Druck geraten, hier mitwirken zu sollen, und ihnen mit dem Wegfall der finanziellen Förderung durch den Staat oder dem Entzug der Lizenz gedroht wird, die sie für ihren Dienst benötigen, der ja ein Dienst an der ganzen Gesellschaft ist, diese Gefahr ist durchaus real. Aber dann werden wir halt, obwohl ich mit diesem Wort sonst sehr vorsichtig bin, kämpfen und einer Welt, die meint, alles unter ihre Machbarkeit zu stellen, widerstehen müssen. Da ist Christsein gefordert, dann ist auch Menschsein gefordert. Der christliche Glaube ist ein Glaube der Menschwerdung.
In den Niederlanden und Belgien, wo die Euthanasie vor fast zwei Jahrzehnten eingeführt wurde, steigt die Zahl der assistierten Suizide und der Tötungen auf Verlangen seit Jahren kontinuierlich. Befürchten Sie nach den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts und des Verfassungsgerichtshofs eine ähnliche Entwicklung auch in Deutschland und Österreich? Und falls ja, was müsste wer tun, um das zu verhindern?
Ja, das ist zu befürchten. Wahrscheinlich wird es sich auch gar nicht ganz aufhalten lassen. Es gibt eine nihilistische Strömung, die sich einen humanen Anstrich verleiht. Wenn die Euthanasie tatsächlich kommt, wird sie ein humanistisches Gewand tragen. Irgendwo war diese Entwicklung vielleicht sogar absehbar. Wir haben nur nicht genau hingeschaut und kostbare Zeit verloren. Jetzt müssen wir dranbleiben. Wir müssen zusehen, wie wir Entwicklungen wie in Belgien, wo inzwischen selbst 12-jährige Kinder euthanasiert werden, oder in anderen Ländern, wo ein Teil der um Suizidhilfe Nachsuchenden nicht einmal schwerkrank ist, bei uns verhindern. Dafür zu sorgen, zählt für mich zu den Hauptaufgaben der nächsten Jahre. Wichtig ist, dabei klug vorzugehen. Alles nur zu verdammen und zu dämonisieren, hilft niemandem. Stattdessen müssen wir eine Allianz aus den besten Kräften des Glaubens, des Lebens und des Miteinanderseins schmieden. Eine Allianz, die Menschen zu gewinnen sucht. Nicht nur den einen oder anderen, sondern viele. So hoffen wir, dass sich die Politik nicht an jenen Umfragen orientiert, wo sich vermeintlich eine deutliche Mehrheit der Befragten für die Suizidhilfe ausspricht. Hier werden viele Gespräche nötig sein, viel Aufklärung selbst in Bezug auf die Validität von Umfragen, und sicher darf auch der Ruf zur Umkehr nicht fehlen. Auf uns wartet also viel Arbeit. Aber ich bin auch zuversichtlich.
Klären Sie uns erneut auf!
Die Pandemie lehrt uns gerade, dass es so unmöglich immer weiter gehen kann. Ich höre interessanterweise gerade von Soziologen, nun müsse eine neue Nachdenklichkeit einsetzen. Unsere Lebensweise, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten herauskristallisiert hätte, sei doch inzwischen sehr korrekturbedürftig. Das lässt hoffen. Und natürlich müssen wir beten. Das Gebet wird immer wieder vergessen. In meinem Bischofshaus beten wir täglich für die Sterbenden sowie für eine gute eigene Sterbestunde. Tun wir das.
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