Als die Entscheidungsschlacht verloren war, begann der Krieg erst so richtig: Am 11. Dezember 2020 strich Österreichs Verfassungsgerichtshof (VfGH) fünf Worte aus Paragraf 78 des Strafgesetzbuchs und änderte so die Rechts- und Bewusstseinslage in der Alpenrepublik. Bisher galt: „Wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.“ Die Worte „oder ihm dazu Hilfe leistet“ widersprächen in dieser Absolutheit dem Selbstbestimmungsrecht des Suizidanten; dessen Recht auf einen selbstbestimmten Tod schließe das Recht ein, dabei die Hilfe dazu bereiter Dritter in Anspruch zu nehmen, urteilten die Höchstrichter.
Hatten viele bis dahin darauf gehofft, der VfGH würde die Attacken auf das Verbot der Hilfestellung zum Suizid abschmettern, so begannen nun die Kämpfe um die Deutung des Urteils, um die Mehrheitsmeinung, um die Rechte von Suizidwilligen, Angehörigen, Pflegern und Ärzten, um das politisch Machbare und das gesellschaftlich Wünschenswerte. Die Bischöfe sprachen vom „kulturellen Dammbruch“ und davon, dass mit dem Urteil „das unbedingte Ja zum Leben in Frage gestellt“ werde. Der Suizid selbst sei rechtlich nicht verboten, aber nicht ethisch neutral, meint der Generalsekretär der Bischofskonferenz, Peter Schipka. Das von den Richtern bemühte Selbstbestimmungsrecht verbiete zwar die Bestrafung des Suizidversuchs, ändere aber nicht dessen ethische Bewertung.
Jeder Suizid ist eine Tragödie
Darum fordert die Geschäftsführerin des „Instituts für medizinische Anthropologie und Bioethik“ (IMABE), Susanne Kummer, mehr Suizidprävention. „Welche Schutzkonzepte entwickeln wir rechtlich, kulturell und kommunikationstechnisch?“, fragte sie bei den Bioethik-Dialogen des „Salzburger Ärzteforum für das Leben“ am Freitag. „Jeder Suizid ist eine Tragödie,“ nun aber drohe die Gefahr, dass unterschieden werde zwischen Suiziden, die eine Tragödie, und solchen, die eine Lösung zu sein scheinen. Sie erwartet durch die Legalisierung der Beihilfe eine deutliche Steigerung der bisher rund 1200 Suizide in Österreich. Auch eine rechtsphilosophische Kritik äußerte Kummer an der Argumentation des VfGH: Der Wunsch des Patienten allein könne nicht ausschlaggebend dafür sein, dass jemand ein Recht auf Hilfe beim Suizid hat. „Es gibt keine Anspruchsmedizin.“
Freigabe oder kleine Ausnahmen?
Tatsächlich hat der VfGH nur von der Hilfe „dazu bereiter Dritter“ gesprochen, ohne diese näher zu definieren. Dass damit keinesfalls Hospiz- und Palliativeinrichtungen gemeint sein dürften, betonte der Obmann der Hospizbewegung Salzburg, Karl Schwaiger: Dadurch würde das Konzept der Hospizbewegung konterkariert und das Vertrauen in diese Institutionen erschüttert. Auch die Vertreter der Ärzteschaft wehren sich. Es dürfe weder Druck auf die Ärzte noch einen Zwang geben, insistiert der Präsident der Österreichischen Ärztekammer, Thomas Szekeres: „Jemanden in den Tod zu befördern, ist nicht Aufgabe der Gesundheitsberufe und der Ärzte.“ Ärzte sollten nur in die Begutachtung eingebunden werden. Es müsse „die Freiheit geben, Nein zu sagen“ zur Mitwirkung am Suizid.
„Die Herbeiführung des Todes ist keine ärztliche Indikation“, bestätigte in Salzburg der Pharmazeut, Mediziner, Priester und Professor für Moraltheologie Matthias Beck. Pflege- und Altenheime kämen als Orte für Suizidassistenz „gar nicht in Frage“, es dürfe aber auch keinen Druck auf Angehörige geben. Und nicht auf Patienten: „Niemand darf sich dafür rechtfertigen müssen, noch leben zu wollen.“ Dass ein solcher, zumindest subjektiv empfundener Rechtfertigungsdruck gegenüber den Angehörigen und der Gesellschaft entstehen kann, stimmt viele Experten besorgt. Anders als von den Verfassungsrichter mit ihrer Fokussierung auf die freie Selbstbestimmung des Betroffenen suggeriert, sei der Sterbewillige gar „nicht autonom, sondern extrem vulnerabel und beeinflussbar“, ist Beck überzeugt. Er fordert vom Staat einen hohen Aufwand: Suizidwillige bräuchten zunächst eine Therapie, dann Begutachtung und einen Notar.
Suizide verhindern
Beck ist überzeugt, dass der VfGH „nur kleine Ausnahmen“ vom absoluten Verbot der Suizidmitwirkung intendierte. Dafür spricht die Argumentation der Höchstrichter. So könnte ein neues Gesetz grundsätzlich an der Strafbarkeit für den Mitwirkenden festhalten und nur eng formulierte Ausnahmen definieren. Genau das ist die Absicht der größeren Regierungspartei ÖVP. Sie wünscht eine „restriktive Regelung“ unter „möglichst strengen Bedingungen“, wie Bundesministerin Karoline Edtstadler bei den Bioethik-Dialogen betonte. Der VfGH habe dem Gesetzgeber die Aufgabe gegeben, abzusichern, dass nur Personen, die einen dauerhaften, ernsten und freien Entschluss haben, aus dem Leben zu scheiden, Suizidbeihilfe in Anspruch nehmen können. Das müsse „in Gesetzesform gegossen“ werden. Es bleibe eine Aufgabe des Staates und der Gesellschaft, Suizide zu verhindern und Suizidwilligen zu helfen, ihren Lebenswillen wieder zu gewinnen. Ärzte und Angehörige dürften keinesfalls zur Mitwirkung verpflichtet werden.
Tötungshilfe als Geschäftsmodell?
Geht es nach der Kanzlerpartei ÖVP, dann wird die vom VfGH gesetzte Frist zur Neuregelung der Rechtslage genutzt, die Türe nur einen kleinen Spalt breit zu öffnen. Die ÖVP regiert jedoch in einer Koalition mit den Grünen; das Justizressort ist in der Hand der grünen Ministerin Alma Zadić. Sie lud in der Vorwoche rund 30 Experten aus Wissenschaft, Hilfsorganisationen, Pflegeeinrichtungen und Religionsgemeinschaften zum Dialog über die Sterbehilfe. Obwohl auch jene „Österreichische Gesellschaft für ein humanes Lebensende“ (ÖGHL) geladen war, die mit ihren Klagen den Erdrutsch Richtung Euthanasie ausgelöst hatte, schossen interessierte Kreise Giftpfeile: „Zum einen garantiert die äußerst einseitig gestaltete Teilnehmerliste eine große Mehrheit der Sterbehilfegegner in diesem Forum“, mokiert die Organisation „Letzte Hilfe: Verein für selbstbestimmtes Sterben“. Auch herrsche eine „Überrepräsentanz der Katholischen Kirche bei gleichzeitiger Marginalisierung der Bioethikkommission“. Die Einberufung eines so „einseitig besetzten Gremiums“ sei „eine demokratiepolitische Zumutung“, zitiert „Letzte Hilfe“ den dank ORF-Dauerpräsenz bekannten Verfassungsrechtler Heinz Mayer.
Schon im Schlachtengetümmel der Koalitionspartner ist absehbar, dass – was immer der Gesetzgeber regelt – die Truppen der Suizidbeihilfe-Befürworter neuerlich vor das Höchstgericht ziehen werden. „Vor dem Sommer“ werde ein Gesetzesvorschlag vorliegen müssen, mahnt Ministerin Edtstadler das grün geführte Justizministerium. Sie hoffe „auf baldige Verhandlungen über einen konkreten Gesetzestext“. Bis Dezember muss das Gesetz verabschiedet sein, weil die zum 1. Januar 2022 wirksame Streichung der genannten fünf Worte sonst bewirken würde, dass „die Beihilfe zum Suizid auf jede Weise und unter allen Umständen“ straffrei wäre, wie die Juristin und Bioethik-Expertin Stephanie Merckens anmerkt. Man müsse politischen Entscheidungsträgern bewusst machen, dass sie über Menschenleben entscheiden, mahnte in Salzburg die Präsidentin des „Dachverbandes Hospiz“, Waltraud Klasnic, einst erste weibliche Regierungschefin eines österreichischen Bundeslandes. Die Politik habe abzusichern, dass „ein Menschenleben in Würde von der Geburt bis zum Tod möglich sein muss“.
Stellungskrieg um die Menschenwürde
Auch in der Frage, was Menschenwürde ist und fordert, herrscht ein Stellungskrieg. Die liberale Oppositionspartei NEOS erkennt ein „selbstbestimmtes Lebensende“ und „ein Sterben in Würde“ darin, dass „die Mitwirkung an der Selbsttötung von unheilbar kranken Patientinnen und Patienten unter bestimmten Umständen“ erlaubt wird. „Wir müssen davon wegkommen, Menschen, die aus Mitgefühl einen engen Verwandten in die Schweiz bringen, zu kriminalisieren“, so Neos-Gesundheitssprecher Gerald Loacker. „In die Schweiz bringen“ verweist wohl auf dortige Sterbehilfeorganisationen und suggeriert, dass ähnliche Strukturen in Österreich verhindert werden. Eben dies fordert die Bischofskonferenz: „Schon gar nicht darf aus der Beihilfe zum Suizid eine Geschäftsmacherei werden. Die Förderung der Selbsttötung sollte in unserem Land nicht als Vereinszweck akzeptiert werden.“ Knapper formuliert es die Intensiv- und Palliativmedizinerin Barbara Friesenecker: „Mit dem Tod Geld zu verdienen, sollte verboten sein.“
Vor wie hinter den Kulissen tobt nun bis Dezember eine Schlacht darum, wer unter welchen Umständen Suizidwilligen bei der Selbsttötung assistieren darf oder muss, wer die Beweislast trägt, und wo strafrechtliche Grenzen zu ziehen sind. Die Waffen in diesem Krieg sind nicht nur Argumente und Fakten, sondern auch Meinungsumfragen und Manipulationen. So behauptet eine Umfrage im Auftrag der ÖGHL, dass 80 Prozent der Österreicher für Sterbehilfe seien, obwohl eine zweite Umfrage in anderem Auftrag eine Zustimmung von 61 Prozent erhebt. Von einer „Schummelumfrage“ spricht der ÖVP-Politiker Jan Ledóchowski, weil Über-70-Jährige gar nicht gewertet wurden und die Fragestellung „höchst manipulativ“ gewesen sei. Von „Propaganda“ und „Manipulation“ spricht auch Innsbrucks Bischof Hermann Glettler. Er ließ aber – wie viele Ethiker, Psychologen und Ärzte – auch Kritik an der höchstrichterlichen Idee von einem freien, selbstbestimmten Suizid anklingen: „Ein Suizid hat fast ausschließlich mit Verzweiflung zu tun, nicht mit Freiheit.“
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