Die Greifswalder Straße im Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg ist eine dicht befahrene Ausfahrtstraße. Hinter den Häuserfronten aus der Gründerzeit würde ein Fremder kaum eine katholische Kirche vermuten. Doch sie steht hier – im Hinterhof der Nummer 18A. Auf dem Gelände des ehemaligen Katharinenstifts befindet sich auch das Katholische Schulzentrum Edith Stein. Dreizehn ausgetretene Stufen führen hinab in den Keller. Über einen Flur gelangt man zu einem Raum mit Holztischen. Handpuppen an den Wänden und Keramik in den Regalen signalisieren, dass hier heute kunsthandwerklich gearbeitet wird. Auch gegen Ende der DDR wurde hier eifrig gearbeitet, allerdings konspirativ. In diesem Keller befand sich die geheime Druckerei der Berliner Bischofskonferenz. Jenseits der Kontrolle durch die Staatsmacht produzierten Ostberliner Katholiken Schriftgut – Predigttexte, Lehrmaterial für das Theologiestudium und DDR-Kritisches.
Chef der Druckerei war in den achtziger Jahren der Priester Heinz-Josef Durstewitz. Zu einem Stundenlohn von 10 DDR-Mark beschäftigte er mehrere Personen als Drucker. Offiziell waren sie für eine andere Tätigkeit angestellt. Durstewitz, Jahrgang 1945, blickt mit Stolz auf diese Zeit zurück. „Mein Vorgänger in der Druckerei war in der Nazizeit als Richter tätig“, sagt er. Als der Mann bemerkte, dass die Urteile, die er fällen sollte, schon vorher feststanden, hängte er seine Richterrobe an den Nagel und wurde Priester.
Motiviert von so viel Mut dirigierte Heinz-Josef Durstewitz sein Arbeitskollektiv durch die letzten DDR-Jahre. „Ich hatte immer Angst“, bekennt er, „aber vor allem um meine Mitarbeiter.“ Viele hätten Familien mit Kindern gehabt. Hätte die Staatssicherheit die Druckerei entdeckt, wären sie verhaftet worden. Doch sie kam ihnen nicht auf die Schliche.
Es war ein Ausweg aus dem Verschweigen der Realität
Sie entdeckte auch nicht, dass dieser Keller für die Produktion der „radix-blätter“ genutzt wurde. Von 1986 bis 90 produzierten katholische und evangelische Christen in ökumenischer Eintracht 20 Ausgaben dieser Zeitschrift der Opposition. Ein Heft umfasste bis zu 124 Seiten. Die Zeitschrift beschäftigte sich mit Themen, die die offiziellen Medien lautstark beschwiegen: unter anderem mit Umweltverschmutzung, Ausländerfeindlichkeit und Neonazis in der DDR sowie mit den psychologischen Folgen des Mauerbaus. Papier war in der DDR Mangelware. Die Redaktionsmitglieder beschafften es sich auf abenteuerlichen Wegen. Außerdem durften sie auf die Vorräte in der Greifswalder Straße 18 A zurückgreifen. Im Keller stand eine Papier-Schneidemaschine, an der Dirk Sauermann das Papier ins richtige Format brachte. Damals studierte er Evangelische Theologie, heute ist er Probst in Mecklenburg.
Da die „radix-blätter“ Auflagen von bis zu 25 000 Stück erreichten, hatte der langhaarige junge Mann viel zu tun: „Meine Motivation war, mich aus dieser geistigen Zwangskollektivierung zu befreien.“ Seine Versuche, an seiner Schule und an anderen Orten über die Zustände in der DDR zu reden, seien gescheitert. Er sei froh gewesen, in seinen Dozenten und den „radix“-Machern endlich Gesprächspartner gefunden zu haben.
In der Greifswalder Straße wurde die Zeitschrift auch gebunden. Gedruckt wurde sie hingegen in Berlin-Kaulsdorf. Die beiden Oppositionellen Charlotte und Peter Bickhardt hatten der Gruppe gestattet, in einem schmalen Raum hinter ihrem Schlafzimmer eine Druckerei einzurichten. Innerhalb von vier Jahren wurden hier sagenhafte 120 000 Seiten gedruckt. Die Hefte wurden in der gesamten DDR von Hand zu Hand weitergereicht – in Kirchen, Familien und auf Treffen der Opposition. Sie kosteten fünf bis zehn DDR-Mark je Ausgabe. Für DDR-Verhältnisse war das recht viel, aber nur so konnten die Produktionskosten gedeckt werden. Stephan, der Sohn von Charlotte und Peter Bickhardt, erinnert sich lebhaft daran, wie im Frühjahr 1987 drei Druckmaschinen in die DDR geschmuggelt wurden. Der grüne Bundestagsabgeordnete Heinz Suhr hatte sie in seinem Auto heimlich über die Grenze befördert. Er hatte wohl nicht bemerkt, dass ihm Stasileute auf den Fersen waren. Stephan Bickhardt stieg in sein Auto, und sie kurvten erst einmal ziellos durch Ostberlin. Schließlich kamen sie auf die Idee, die Druckmaschinen bei dem Theologie-Dozenten Wolfgang Ullmann abzustellen.
Hinterhöfe als Schutzraum
In Berlin haben viele Häuser Hinterhöfe. „Sie waren ein Schutzraum für uns“, erinnert sich Stephan Bickhardt. „Es gab illegale Konzerte und Galerien in Privatwohnungen auf Hinterhöfen.“ Und auch Wolfgang Ullmann lebte in einem Haus mit Hinterhof. So konnten die Männer die Türen schließen und in Ruhe ausladen. Die Stasileute blieben unverrichteter Dinge draußen stehen. Auch die geheime katholische Druckerei befand sich ja auf einem geschützten Hinterhof. Dass das Gelände zur Kirche gehörte, habe ebenfalls Schutz geboten, sagt Stephan Bickhardt. Im Laufe der Jahre waren 136 Autorinnen und Autoren für die „radix-blätter“ tätig, darunter so bekannte wie Bärbel Bohley und Konrad Weiß. Das Heft war journalistisch durchdacht, sorgfältig redigiert und mit Illustrationen oppositioneller Künstler versehen. Alle Texte waren mit den Klarnamen der Schreiber gezeichnet. So wusste die Staatsmacht zwar, wer sich da betätigte, aber nicht, wo.
„Radix“ ist Latein und bedeutet Wurzel. Und so betrachtete die Redaktion ihr Heft als Wurzel für ein demokratisches Gesellschaftssystem. Eine ihrer wichtigsten Aktionen war ein Aufruf zu Pfingsten 1988. Bis dahin hatten die Bürgerrechtler die Wahlen in der DDR kaum ernst genommen. Nun solle man sich daran beteiligen, nach Möglichkeit eigene Kandidatinnen und Kandidaten aufstellen und bei der Auszählung der Stimmen anwesend sein, schlug die Redaktion ihren Lesern vor. Und so geschah es. Als im Mai 1989 Kommunalwahlen anstanden, folgten viele Menschen diesem Aufruf. „Der Nachweis der Wahlfälschung war ein Sargnagel, der Ende 1989 in dieses marode System geklopft wurde“, sagt der Journalist Peter Wensierski. Die Initiative dazu sei eindeutig von den „radix-blättern“ ausgegangen.
Wensierski hat ein spannendes Buch über den Untergrundverlag geschrieben: „Fenster zur Freiheit“ (Mitteldeutscher Verlag). Heinz-Josef Durstewitz, Chef der katholischen Geheimdruckerei, ist froh über so viel öffentliche Aufmerksamkeit: „Das ist einerseits eine Würdigung unseres Bekennermutes. Und andererseits eine Ermutigung für heute, dass auch Einzelne etwas tun können. Man sagt schnell: Man kann allein sowieso nichts machen. Das stimmt nicht!“