Zum Schreiben kam der profilierte Kinder- und Jugendschriftsteller Willi Fährmann (1929 bis 2017) über das Erzählen: Der Vater las ihm als Kind fast täglich vor, und die Erzählkunst der Großmutter prägte ihn. Neben zahlreichen literarischen Auszeichnungen erhielt Fährmann für sein Gesamtwerk den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur.
In seiner Autobiographie „ Das Glück ist nicht vorbeigegangen“ blickt Fährmann in 33 Geschichten auf ein ereignisreiches Leben zurück. Fast meint man, ihn beim Erzählen zu hören, wenn er über den Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg, verschlungene Wegen der Berufsfindung und die Freuden des Lesens schreibt. Aus einer Arbeiterfamilie stammend, erlernte er zunächst den Beruf des Maurers. Aber „der Gedanke, Lehrer zu werden, baute sich in meinem Kopf ein Nest“, und so gelangte er über Abendgymnasium und pädagogische Akademie zu seinem Traumberuf als Volksschullehrer, Rektor und Schulrat. Wie Schriftsteller-Kollege Otfried Preußler arbeitete Fährmann nicht nur mit Kindern und Jugendlichen, sondern verfasste heitere und ernste, phantasievolle und lebensnahe Bücher für sie, erzählte Geschichten und Zeitgeschichte auf eine unnachahmliche Art. Das tragende Motiv war für den Schriftsteller dabei, „dagegen anschreiben, dass die Kinder-und Jugendliteratur keine eigentliche Literatur, keine Poesie sei“.
Beliebte „Oma-Bücher“
Die Oma-Bücher „Als Oma das Papier noch bügelte“ und „Als Oma noch mit Kohlen heizte“ nehmen Groß und Klein auf eine Zeitreise in die nicht immer gute alte Zeit mit. Es sind erlebte Geschichten. Kohlenhändler und Pferdewagen kommen in ihnen vor. Dabei denkt Fährmann nicht nur an die Jüngeren, die sich hier über frühere Zeiten informieren können. Auch für die Erinnerungen der älteren und alten Generation, schreibt er im Vorwort zu „Als Oma noch mit Kohlen heizte“, seien die Geschichten hilfreich, oft genug entwickle sich ein lebhaftes Gespräch in der Familie.
Unter den Kinderbüchern ragen märchenhafte Erzählungen wie „Das feuerrote Segel“ und die Sagenbücher heraus, in denen Fährmann deutsche, griechische und britannische Sagen nachzeichnet: „Deutsche Heldensagen“, „Das Feuer des Prometheus“, „König Artus und sein Zauberer“. Mit „Jakob und seine Freunde“ erzählt er eine mitreißende Geschichte über eine Kinderfreundschaft. „Isabella Zirkuskind“ schildert, wie sich Kinder zielstrebig und kreativ für ihre Freunde einsetzen.
Religiöse Kinderbücher
Fährmann verfasste auch Kinderbücher mit religiösem Inhalt. So ist die Legende vom vierten König unter dem Titel „Sternenkönig“ in einer schön illustrierten Ausgabe erhältlich. „Der mit den Fischen sprach“ stellt Kindern den heiligen Antonius vor; „Franz und das Rotkehlchen“ bringt ihnen den heiligen Franziskus nahe. Einen Strauß an Geschichten, Legenden und Märchen für alle Jahreszeiten können Familien in „Das erste Licht des neuen Tages“ entdecken, dem illustrierten Jubiläumsband zum 80. Geburtstag des Autors.
Zwei Titel werden gerne als Schullektüre verwendet, denn sie greifen behutsam ernste Themen auf. Der Fabelroman „Der überaus starke Willibald“ schildert, wie der Anführer eines Mäuserudels die Angst vor der Katze dazu nutzt, seine Herrschaft auszubauen. Es geht um Menschlichkeit und den Wert der freien Meinungsäußerung, erste Gespräche mit Kindern über politische Diktaturen werden angeregt. Später entstand die Fortsetzung, „Die Abenteuer der überaus mutigen Lillimaus“.
Gegen Antisemitismus
Als eines der ersten Kinderbücher gegen Antisemitismus beruht das 1968 erschienene Werk „Es geschah im Nachbarhaus“ auf einer wahren Geschichte rund um die Aufklärung eines rätselhaften Mordfalls. Aus Vorurteilen gegen eine jüdische Familie, deren Unschuld sich letztlich erweist, entstehen Gerüchte, Anklage und Verhaftung. Jahrzehntelang hat Fährmann an seinen Hauptwerken, der Bienmann-Saga und der Fink-Saga, gearbeitet, Zeitzeugen befragt und recherchiert. Das Ergebnis sind authentische, anspruchsvolle zeitgeschichtliche Jugendbücher, die in literarischer Sprache verfasst sind. Mit dem ersten großen Erfolg „Das Jahr der Wölfe“ gelang es, „die Tür der Jugendliteratur zur Erwachsenenliteratur weit auf zustoßen“, erinnert sich der Autor in seiner Autobiographie.
In Fährmanns Büchern kommen Freude und Glück ebenso zur Sprache wie Herausforderungen des Alltags. Eingebettet in den jeweiligen historischen Kontext, suchen seine Hauptfiguren ihren Platz im Leben, entwickeln sich, lernen dazu. Sie bleiben nicht eindimensional, holzschnittartig oder vor Anfechtungen gefeit. Dadurch geben sie Jugendlichen Raum zur Identifikation, sind doch die wesentlichen Fragen in allen Zeiten gleich: die Suche nach dem eigenen Ich, den Talenten und der Lebensaufgabe, das Eingehen von Freundschaften und die Entscheidung für eine dauerhafte Bindung, die kritische Unterscheidung von Wahrheit und Lüge, alles unter dem Aspekt, an welchen Idealen der junge Mensch angesichts so mancher halbgarer Kompromisse vieler Erwachsener sein Leben ausrichten will. Immer wieder stellt Fährmann seinen jungen Helden glaubwürdige Vorbilder auch aus dem kirchlichen Bereich an die Seite.
Familien-Sagas
Die Bienmann-Saga mit den Bänden „Der lange Weg des Lukas B.“ , „Zeit zu hassen, Zeit zu lieben“, „Das Jahr der Wölfe“ und „Kristina, vergiss nicht“ thematisiert das Schicksal der Familie Bienmann über einen Zeitraum von etwa hundert Jahren. Ausgehend von der Auswanderungswelle nach Amerika im 19. Jahrhundert, spannt sich der Bogen über den ersten und zweiten Weltkrieg bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Dabei können alle Bände unabhängig voneinander gelesen werden.
Die Fink-Saga über eine Familie aus dem Paderbornschen Land spielt im 20. Jahrhundert von den dreißiger Jahren bis in die Nachkriegszeit. Auch hier steht jeder der vier Bände („Der Mann im Feuer“, „Unter der Asche die Glut“, „Sie weckten das Morgenrot“, „Die Stunde der Lerche“) für sich. Besonders beeindruckend ist der zweite Band, in dem der junge Christian zur Schar, einer katholischen Jugendgruppe, findet. 1935 wandert er alleine zu Fuß nach Rom. Dort trägt die katholische Jugend auf einem Zeltlager selbstbewusst ihre in Deutschland verbotene Kluft, was in der Öffentlichkeit als politisches Zeichen verstanden wird.
Es darf märchenhaft sein
Im Fährmannschen Werk tritt deutlich zutage, was gute Kinder- und Jugendliteratur ausmacht. Neben einer angemessenen Sprache und den vertretenen Werten kommt es auf altersgemäße Themen an. Im Kindesalter darf es gerne märchenhaft zugehen.
Weiter bilden Geschichten aus dem unmittelbaren Lebensumfeld den Rahmen für Grunderfahrungen von familiärem Zusammenhalt, Mut und Freundschaft. Jugendliche dagegen entwickeln einen kritischen Sinn für die Realität. Hier ist es wichtig, ihren Horizont zu weiten, Raum für die großen Fragen zu lassen und unaufdringlich die sinnstiftenden Aussagen des christlichen Glaubens anzubieten.
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