Der Relativismus ist das Krebsübel unserer Zeit. Benedikt XVI. sagt es vornehmer so: „Der Verzicht auf die Wahrheit ist der Kern der Krise heute.“ In vielen Bereichen, vor allem der Werte-Vermittlung, verzichten Menschen, auch Christen, heute darauf, die Wahrheit zu suchen und anzustreben. Das gilt auch für die Erziehung, ja gerade in diesem Bereich zeigen sich selbst Christen erstaunlich konfliktscheu. Möglicherweise sind das unbewusste Folgen der anti-autoritären Erziehung oder schlicht auch Zeichen der Überforderung in einer Welt, in der alles möglich scheint und in der eine Erziehung zu Freiheit und Verantwortung, zu Hingabe und Liebesfähigkeit, zu Treue und Ausdauer in Beziehungen, zu offener Hilfsbereitschaft und tiefer Lebensfreude einfach überholt, altmodisch oder gar reaktionär anmutet. Man steht eben nicht gern allein mit seinen Ansichten, zum Beispiel bei einer Elternpflegschaftssitzung. Und auch das heranwachsende Kind gibt in einer säkularisierten Umgebung nur ungern zu, dass die Eltern ihm dies oder jenes nicht erlauben, was für die Klassenkameraden eigentlich selbstverständlich ist, zum Beispiel das Übernachten im Haus der Freundin nach einer Party oder ein Smartphone für Zehnjährige mit unbegrenztem Zugang ins Internet.
Die allgemeine Rat- und Hilflosigkeit in Erziehungsfragen mit dem dazugehörigen Laissez-aller und Treibenlassen aber führen in Beliebigkeit und Beziehungsunfähigkeit. Sie entkernen den Menschen, denn sie enthalten ihm die in seiner Natur grundgelegte Freiheits- und Liebesfähigkeit vor. Schon deshalb hat das Thema Erziehung unmittelbar mit dem Kampf gegen den Relativismus zu tun. Gerade Christen müssen sich heute erneut bewusst machen, welche Ziele sie dabei anstreben, was sie sich für ihre Kinder vorstellen.
Der integre Mensch ist keine Selbstverständlichkeit mehr
Was für Personen wollen wir? Welches Abbild sollen die Kinder später verkörpern? Das des strafenden oder des barmherzigen Gottes, das des gerechten oder des verzeihenden? Erziehung und Gottesbild, Erziehung und Wahrheit sind untrennbar. Der amerikanische Erfolgsautor und Psychotherapeut Ross Campell, dessen Bücher auch ins Deutsche übersetzt wurden, spricht in diesem Zusammenhang vom integren Menschen als Erziehungsziel und definiert das in seinem Buch „Bevor der Kragen platzt“ so: „Ein integrer Mensch sagt immer die Wahrheit, hält stets, was er verspricht, übernimmt jederzeit die Verantwortung für sein Verhalten.“
Das erscheint Christen als Binsenweisheit. Aber wer Politiker, Journalisten, Manager oder Geschäftsleute heute an dieser Elle misst, der wird feststellen, dass der integre Mensch keine Selbstverständlichkeit ist. Dennoch verlangt man von den Eltern ganz selbstverständlich, dass sie ihrer grundgesetzlichen Pflicht nachkommen und die Kinder zu integren Menschen erziehen. Gleichzeitig versagt man ihnen, auch ganz selbstverständlich, die Anerkennung für ihre Arbeit und, schlimmer noch, stempelt sie gern als Versager ab. Mit Vorwürfen ist man schnell zur Hand und vergisst, dass schon lange zuvor die Gesellschaft und die Politik versagt haben.
Immer die Wahrheit sagen, Versprechen halten, Verantwortung übernehmen – das klingt nach trockener Pflichtenlehre. Aber es hat durchaus mit Glück zu tun. Augustinus schreibt in seinen Bekenntnissen im 23. Kapitel: „Das glückliche Leben ist nichts anderes als die Freude, welche die Wahrheit erzeugt“ und „diese Wahrheit findet man in Dir, Herr, in Dir, der höchsten Wahrheit.“ Die Freude des integren Menschen – für christliche Eltern sollte natürlicherweise noch hinzukommen, dass die Kinder später eigenständig sich in Liebe hingeben, das heißt den Willen Gottes selber entdecken, erkennen und ihm folgen können. Dass sie dem Ruf Gottes – jeder Mensch hat als einzigartige Liebesidee des Schöpfers eine Berufung – nicht aus Angst oder purer Berechnung folgen, sondern aus Liebe. Und darin ihr Glück finden.
Kinder müssen sich angenommen wissen
Was Kinder zunächst vor allem brauchen, ist nicht die Forderung nach Disziplin und anderen Sekundärtugenden, worauf die Welt heute so viel Wert legt, sondern die Bestätigung. Sie müssen sich bedingungslos angenommen fühlen, von Anfang an. Zuwendung und Zuneigung wecken die Fähigkeiten, wandeln potenzielle Energie in kinetische, bilden Humanvermögen – es gibt viele Begriffe, um eigentlich das Urvermögen des Menschen zu beschreiben, das Ur-Geschenk, wie Thomas von Aquin sagt, nämlich zu lieben. Deshalb ist, wie der große Pädagoge Don Bosco sagt, „das erste Glück eines Menschen das Bewusstsein, geliebt zu werden“. Auf die Liebesfähigkeit kommt es an, nicht auf Anstand, Zackigkeit, Schnelligkeit oder Hilfsbereitschaft. Das sind nur Folgen der Primärtugend Liebe.
Liebe und Wahrheit bedingen einander. Und sie machen frei. Aber Erziehungsfragen sind oft Moden unterworfen. Als Reaktion auf die anti-autoritäre Erziehung war eine Zeitlang der Trend sehr stark, unbedingt Grenzen setzen zu müssen. Kinder sollten nicht mehr verwöhnt sein. Und das von Anfang an. Man ließ Kleinstkinder schreien, damit sie sich an einen Rhythmus des Essens gewöhnen oder damit „sie keinen Beziehungs-Terror machen“, also die Mutter zwingen, immer in der Nähe zu sein. Heute weiß man, dass die Mutter-Kind-Beziehungen störungsfreier verlaufen, wenn die Mutter nicht solchen Moden, sondern ihrem Instinkt folgt und das Kind an die Brust nimmt oder beruhigt.
Kein Lehrbuch kann den Instinkt ersetzen. Eltern können allerdings verunsichert werden durch zu viele Ratgeber, sei es in der Familie, sei es im Freundeskreis, sei es im Fernsehen oder auch im Internet. Ein Kind ist nicht deshalb verwöhnt, weil es nie bestraft wurde. Aber es kann eine „Strafe“ fürs Leben sein, dem Kind zu wenig Liebe geschenkt zu haben.
Eine Strafe sollte nie demütigend sein
Natürlich können Eltern nicht jede Handlung billigen. Aber es gilt auch bei Sanktionen immer, zunächst die Person zu sehen und Person und Handeln zu unterscheiden. „Den Sünder lieben, die Sünde hassen“, nennt das Augustinus. Eine Strafe sollte deshalb nie demütigend sein, was bei körperlichen Strafen der Fall ist. Die menschliche Würde ist ein zu kostbares Gut, als dass man es irgendwelchen Prinzipien des Rechts oder des Rechthabens zum Opfer bringen sollte. Strafen sollten immer im Zusammenhang mit dem Vergehen stehen. Eine manifeste Lüge mit Fernsehverbot zu bestrafen ist nicht nur unsinnig, das wertet das Fernsehen sogar auf. Kinder sind ungemein logisch. Sie denken: Wenn ich nicht lüge, darf ich immer fernsehen. Und sie empfinden es als ungerecht, nicht fernsehen zu dürfen, obwohl sie die Wahrheit gesagt haben. Sie verstehen umgekehrt den Zusammenhang sofort: Kommt das Kind zu spät nachhause, könnte man die Zeit des Ausgehens beim nächsten Mal begrenzen – am besten nach vorheriger Absprache. Absprachen erleichtern es, die Konsequenzen aufzuzeigen und einzufordern.
Überhaupt die Konsequenz: Viele Autoren weisen zu Recht darauf hin, dass die beste Strafe die gefühlte Konsequenz ist. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, inwieweit die Konsequenz schädlich oder nützlich sein kann. Es ist zum Beispiel unsinnig, ein Kleinkind hungern zu lassen, weil es den Teller vom Tisch gefegt hat. Es ist aber sinnvoll, ein zehnjähriges Kind warten zu lassen, wenn es mittags nicht essen wollte, weil es vorher bei McDonalds war und am Nachmittag an den Kühlschrank will. Essen hat nicht nur eine biologische, sondern auch eine soziale, mithin auch eine erzieherische Komponente. Eltern wissen das und können es auch gut beurteilen – wenn sie da sind.
Leitplanken einziehen auf dem Weg zum integren Menschen
Welche allgemeinen Grenzen können nun gesetzt werden? Alles, was der Person schadet, gilt es zu vermeiden. Grenzen sind Schutzzäune. Grenzen sind Leitplanken auf dem Weg zum Ziel des integren und liebesfähigen Menschen. Wenn das Urvertrauen in die Eltern gegeben ist, dann lassen sich auch die Umstände leichter erklären, dann gehorchen Kinder aus Liebe und nicht aus Angst vor Strafe. Ohne Erklärung allerdings wird der Rat zum Befehl, das Zuhause zur Kaserne, die Mutter zum Feldwebel und der Vater zum General in der Etappe. Ein eindringlich gesprochener Satz, ein mit erheblichem Nachdruck formulierter Rat ohne Raum zur Diskussion – „Bitte mach das jetzt!“ – kann mal in einer Stress-Situation nötig sein. Es darf nicht zur Gewohnheit werden. Auch die verbale Demütigung – Ironie, mangelndes Zutrauen, ständige Unterschätzung der Fähigkeiten der Kinder – führen nicht nur zu Selbstwertproblemen der Kinder, sondern erzeugen auch Wut und das Gefühl von Hilflosigkeit. Das wiederum kann zu Aggressionen gegen andere, gegen sich selbst und auch gegen Gott führen. Und die Freiheit? Sie kann schon früh eingeübt werden. Auch Kleinkinder können entscheiden lernen, etwa zwischen Apfel oder Birne zum Nachtisch. So lernt man Freiheit zu gebrauchen. Genauso definiert Thomas von Aquin die Freiheit, als vis operans, als tätige Kraft der Entscheidung. Wenn Eltern zu viel vorentscheiden, riskieren sie, die Kinder zu entmündigen oder gar freiheitsunfähig zu machen. Wenn Kinder lernen zu entscheiden, werden sie freiheitsfähig. Zur klugen Organisation des Haushalts gehören auch die Aufträge für die Kinder, auch wenn die Aufträge nicht perfekt erledigt werden.
All das erfordert viel Geduld, viel Zeit. Aber das ist die Grundlage jeder Erziehungsbemühung. Ohne Zeit ist der Aufbau einer Beziehung, ja ist Liebe unmöglich. Deshalb ist es wichtig, sich die Zeit nicht stehlen zu lassen, zum Beispiel vom Fernsehen oder Smartphone. Zahlreiche Studien haben ergeben, dass audiovisuelle Medien abstumpfende Wirkung haben und den Intelligenzquotienten senken. Professor Manfred Spitzer hat hier intensive Forschung betrieben. Sein Buch heißt bezeichnenderweise „Digitale Demenz“. Solche Kinder werden selten nach der Wahrheit suchen.
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