In ihrem wegweisenden Buch „Suizidgefährdete Jugendliche unterstützen“ entwerfen Haim Omer und Anat Brunstein-Klomek ein überzeugendes Konzept, das sich mit einem der sensibelsten und drängendsten Themen der heutigen Jugendpsychologie beschäftigt: der Suizidgefahr. Anstatt sich auf reine Symptombeschreibungen oder therapeutische Standardinterventionen zu beschränken, entwickeln sie einen ganzheitlichen Ansatz, der tief in der Theorie der „Neuen Autorität“ verwurzelt ist. Das Buch dient als Leitfaden für Familie, Schule und soziales Umfeld.
Die Autoren beginnen mit einer scharfsinnigen Analyse der Krise traditioneller Autoritätsmodelle. Distanz, Kontrolle, Gehorsam und sofortige Bestrafung haben in der modernen Erziehung ausgedient – nicht zuletzt, weil sie mit heutigen pädagogischen Werten unvereinbar seien. Auch die daraus entstandene Gegenbewegung, der „Traum“ von einer autoritätsfreien Erziehung, welche seit den 60er-Jahren bis heute sehr einflussreich ist, wird kritisch hinterfragt: Ein rein „liberaler“ Erziehungsstil führt oft zu Ohnmacht, Überforderung und Orientierungslosigkeit bei Kindern und Jugendlichen.
Omer und Brunstein-Klomek führen eine breite Evidenzbasis an, unter anderem Studien von Diane Baumrind, die zeigen, dass permissive Erziehungsstile oft zu impulsivem Verhalten, geringem Selbstwert und erhöhtem Risiko für psychische Erkrankungen führen – inklusive suizidaler Tendenzen. Diesen empirischen Unterbau nutzen die Autoren, um die Notwendigkeit einer dritten Option zu betonen: die Neue Autorität.
Sie ist ein pädagogisches und psychologisches Konzept, das Eltern, Lehrkräfte oder andere Bezugspersonen darin unterstützt, wirksam, standhaft und beziehungsorientiert zu handeln – ohne Gewalt, Einschüchterung oder ständiges Nachgeben.
Besonders in Situationen, in denen herkömmliche Erziehungsmodelle nicht mehr greifen – etwa bei starken Konflikten, Grenzüberschreitungen oder Krisen wie Suizidgefahr – kann dieser Ansatz Erwachsenen helfen, wieder Halt und Handlungsfähigkeit zu gewinnen, ohne die Beziehung zu gefährden. Durch ihn lernen Eltern, stark, aber nicht hart – konsequent, aber nicht rigide – liebevoll, aber nicht machtlos zu agieren.
Eltern als Hafen, der nach innen und außen offen ist
Als zentrale Schutzfaktoren im Leben eines Kindes werden die Zugehörigkeit und Verbundenheit zu verlässlichen Bezugspersonen für das psychische Wohlbefinden – besonders in Krisenzeiten – aufgeführt. Jugendliche, die sich emotional isoliert oder alleingelassen fühlen, sind weitaus gefährdeter, destruktive Gedanken zu entwickeln. Studien zeigen: Der Mangel an Zugehörigkeit zählt zu den größten Risikofaktoren für suizidale Entwicklungen. Umgekehrt können stabile, zugewandte Beziehungen, in denen Jugendliche sich gesehen, gehalten und als Teil einer Gemeinschaft erleben, entscheidend dazu beitragen, dass sie Lebensmut und innere Stabilität zurückgewinnen.
In Verbindung mit der Bindungstheorie betonen die Autoren, dass Eltern für Kinder sowohl ein sicherer Hafen (liebevolle Annahme) als auch eine sichere Basis (ermutigendes Loslassen) sein sollten. Doch das allein reicht nicht.
Die „Ankerfunktion“ wird als drittes, zentrales Element eingeführt: Sie beschreibt die verlässliche, standhafte Präsenz der Eltern, die das Kind vor inneren Impulsen und äußeren Gefährdungen schützt. Nur wenn ein Hafen sowohl nach innen als auch nach außen offen ist, kann er seiner Funktion gerecht werden – sonst wird er zur Falle. Die Ankerfunktion stellt somit eine stabilisierende Kraft dar, die Kindern hilft, in Krisen nicht abzudriften, sondern sich gehalten und orientiert zu fühlen.
Die Metapher des Ankers ist inhaltlich tiefgreifend. Besonders wirkungsvoll ist die Beschreibung, wie Eltern diese Haltung aktiv einnehmen können: nicht durch Kontrolle oder Drohungen, sondern durch konsequente, ruhige, präsente Begleitung.
Die Ankerfunktion der neuen Autorität basiert auf vier zentralen Säulen: Die erste ist die Präsenz. Erwachsene sind sichtbar und spürbar im Leben des Kindes anwesend. Sie ziehen sich nicht zurück, auch wenn es schwierig wird. Präsenz heißt: Ich begleite, ich frage nach, ich bin da. Ein Vater, dessen Tochter sich immer mehr zurückzieht, kann sich beispielsweise jeden Abend kurz zu ihr setzen, auch wenn sie schweigt. Er zeigt: Ich sehe dich, ich bin da, ich gehe nicht weg.
Die zweite Säule ist die Selbstkontrolle: Statt impulsiv zu reagieren – indem man schreit oder bestraft –, lernen Erwachsene, sich ruhig und überlegt zu verhalten. Sie strahlen dadurch Sicherheit aus. Wenn ein Sohn seine Mutter anschreit, kann diese statt zurückzuschreien tief durchatmen, ruhig bleiben und sagen: Ich sehe, dass du wütend bist. Wir reden später weiter. – Das ist Selbstbeherrschung in Aktion.
Die dritte Säule betrifft die Unterstützung durch das Netzwerk. Erwachsene holen sich Hilfe von außen – etwa durch Familie, Freunde, Lehrer, Therapeuten. Das zeigt: Du bist uns wichtig – und viele stehen an deiner Seite. So können Eltern eines gefährdeten Jugendlichen ein Treffen mit einer vertrauten Tante, einer Lehrerin oder einem Nachbarn organisieren und so ihrem Sohn gemeinsam zeigen: Du bist nicht allein.
Die vierte Säule schließlich ist die Beharrlichkeit. Es geht nicht um schnelle Lösungen, sondern darum, dranzubleiben. Auch wenn das Kind ablehnt oder keine Veränderung zeigt: Die Erwachsenen geben nicht auf. Eine Mutter kann beispielsweise ihrem Sohn, der sich völlig abkapselt, jeden Tag eine kleine Nachricht aufs Handy schicken: Ich denke an dich. Sie erwartet keine Antwort – aber sie bleibt präsent. Jeden Tag.
Ich bin da – auch wenn du mich wegstößt
Die Neue Autorität ist kein Machtinstrument. Sie ist eine Haltung: Ich bin da – auch wenn du mich wegstößt. Ich kontrolliere dich nicht – aber ich übernehme Verantwortung. Ich gebe dir Raum – aber keine Gleichgültigkeit. Ich handle – aber mit Würde. Das bedeutet: Führung ohne Zwang, Nähe ohne Einengung, Verantwortung ohne Schuldzuweisung.
Ein Heranwachsender in der Krise erlebt dadurch: „Da ist jemand, der nicht perfekt ist – aber verlässlich. Der bleibt. Der sich sorgt. Und der mich hält, auch wenn ich selbst den Halt verliere.“
Die Autoren nehmen Bezug auf zahlreiche Dynamiken, die zwischen suizidalen Jugendlichen und ihrem Umfeld eine Rolle spielen, und sprechen praxisnahe Handlungsoptionen auch in akuten Situationen aus.
Ein zentrales Bild des Buches ist die sogenannte „doppelte Blase“, in der suizidgefährdete Jugendliche gefangen sind: emotional durch Schmerz und Hoffnungslosigkeit, zwischenmenschlich durch Isolation und das Gefühl, unverstanden zu sein. Ziel der Interventionen ist es, einen ersten „Riss“ in diese Blasen zu schlagen, sei es durch empathische Ansprache, durch die sogenannte Ankündigung – ein bewusst gesetzter Handlungsimpuls der Eltern – oder durch Rituale wie die Fleh-Zeremonie, in der Unterstützer ihre Verbundenheit mit dem Jugendlichen ausdrücken. Dabei fleht buchstäblich eine dem Jugendlichen wichtige Person (etwa eine Oma oder die Geschwister) den Jugendlichen an, sich nichts anzutun.
Besonders hervorzuheben ist, wie Omer und Brunstein-Klomek Eltern entlasten: Sie sprechen deren Leiden und Schuldgefühle offen an und machen deutlich, dass nicht „falsche Erziehung“ die Ursache für die Krise ist, sondern ein komplexes Geflecht aus biologischen, psychischen und sozialen Faktoren.
Ein weiteres herausragendes Element ist die Metapher von Edwin Shneidmans „Parlament des Geistes“. Hier wird nicht der naive Anspruch erhoben, Jugendliche endgültig vom Leben zu überzeugen. Stattdessen geht es um eine realistische, oft lebensrettende Verschiebung der inneren Mehrheitsverhältnisse. Shneidman nutzt hier ein Bild aus der Welt der Politik. Er führt an, dass die Person einen inneren Dialog erlebt, in dem Stimmen des Todes mit Stimmen des Lebens konkurrieren. Während der Versuch, die Krise „ein für alle Mal“ zu lösen, gefährliche Auswirkungen haben kann, wird durch die Verschiebung weniger Stimmen auf die Seite des Lebens kostbare Zeit gewonnen.
Stimmen des Lebens – Stimmen des Todes
Darüber hinaus stellt das Buch einen viergliedrigen Präventionskreis vor: Jugendliche, Eltern, Unterstützer aus dem persönlichen Umfeld und Fachleute. Suizidprävention wird so nicht auf die Schultern einzelner Therapeuten oder Eltern abgeladen, sondern als geteilte Verantwortung verstanden. Dieser systemische Ansatz ist nicht nur ethisch überzeugend, sondern erhöht auch die Chancen auf nachhaltige Veränderung.
Die Autoren weisen auf zwei Hauptmerkmale des emotionalen Zustands einer suizidalen Person hin. Zum einen das tiefe Gefühl der Vereinsamung, zum anderen das Schrumpfen des emotionalen Raums. Die Person hat das Gefühl, als sei ihr ganzes Sein in einem Raum des Leidens verortet. Ein Weiterleben würde demnach nur Weiterleiden bedeuten.
Die Unterstützer, welche das gemeinsame Konzept der Ankerfunktion nutzen, werden Situationen schaffen, in denen die Jugendlichen Zugehörigkeit verspüren.
Dabei betonen die Autoren, dass die Fachliteratur kein konkretes Beispiel für eine Botschaft kennt, die übermittelt werden könnte, um einen Jugendlichen von seinen suizidalen Absichten abzubringen. Jede Situation ist individuell und als solche zu behandeln.
„Suizidgefährdete Jugendliche unterstützen“ ist ein kluges, tiefgründiges und praxisnahes Werk, das Theorie und Intervention auf eine seltene Weise miteinander vereint. Es bietet Hoffnung, wo Ohnmacht herrscht, Orientierung, wo Eltern und Fachleute oft im Dunkeln tappen, und Struktur, wo Chaos zu überwiegen droht. Besonders hervorzuheben ist die menschliche, respektvolle Haltung, mit der sowohl Jugendlichen als auch Eltern begegnet wird.
Haim Omer/Anat Brunstein-Klomek: Suizidgefährdete Jugendliche unterstützen: ein Leitfaden für Familie, Schule und soziales Umfeld, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2025, 248 Seiten, kartoniert, EUR 28,–
Menschen, deren Gedanken um Suizid kreisen oder die sich in einer seelischen Krise befinden, sollten das Gespräch mit anderen Menschen suchen. Es gibt zahlreiche Hilfsangebote – auch für vermeintlich aussichtslose Lebenslagen. Eine Übersicht über sämtliche Hilfsangebote finden Sie hier: https://www.suizidprophylaxe.de/hilfsangebote/hilfsangebote/
Die Rezensentin ist Psychologin und Mutter von sieben Kindern.
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