Stolz hält Tik-Tok-Nutzer "demoralizedpup" ein Glas in die Kamera. Darin schwimmt ein rotes Organ in einer farblosen Flüssigkeit. "Schaut mal Leute das ist mein Uterus!" sagt die Person, die laut Tik-Tok-Biographie mit männlichen oder neutralen Pronomen angesprochen werden möchte und ungefähr Mitte Zwanzig ist. Dieses kurze Video, das im März 2022 auf Twitter viral ging, ist nur ein Beispiel einer zunehmend rasanten Entwicklung: Die Zahl von jungen Menschen, die ihr Geschlecht hormonell oder operativ an das andere "angleichen" wollen, steigt seit Monaten exponenziell an. Sie wird durch das Internet beflügelt.
Von außen ist diese Entwicklung kaum zu begreifen. Junge Frauen und Männer nehmen lebenslange Abhängigkeit von medizinischer Versorgung in Kauf, lassen gesundes Gewebe amputieren, sich sterilisieren. Immer mehr drängen sie sich in öffentliche Debatten und verlangen volle Akzeptanz und Unterstützung von Gesellschaft und Politik. Und immer mehr Eltern sehen sich plötzlich einem Sohn oder einer Tochter im Teenager-Alter gegenüber, der oder die überzeugt davon ist, "trans" zu sein und von den Eltern zuerst Verständnis, dann Zustimmung und schließlich Maßnahmen verlangt. Wenn die Eltern ablehnend reagieren, ist das oft bereits vorkalkuliert und wird als Stigmatisierung verbucht. Der Konter folgt auf dem Fuß: "Entweder ein lebendiger Sohn, oder eine tote Tochter!"
Wer bereut, erfährt Druck
Eltern erfahren mehr und mehr Unterstützung von sogenannten "Detransitionierern". So bezeichnen sich Personen, die ihre Geschlechtsangleichung bereuen und sich wieder mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren. Manche von ihnen haben nur aufgehört, regelmäßig Hormone zu nehmen. Andere müssen sich mit der Tatsache abfinden, dass Teile ihres Körpers für immer verstümmelt bleiben. Sie haben, obwohl sie in der Öffentlichkeit von Trans-Aktivisten brutal unter Druck gesetzt werden, eine wichtige Botschaft: Das Problem beginnt nicht in ihrem Kopf.
Abseits von Debatten um Pronomen, gendergerechte Schreibweisen oder Toilettenräume bleiben die Dynamiken, die junge Menschen massenweise in den Trans-Aktivismus führen, verborgen. Diese Kinder und Jugendlichen sind vorbereitet, geschult. Sie schöpfen aus Ressourcen, auf die die meisten Eltern keinen Zugriff haben. Dass die sozialen Medien Gefahren für die psychische Stabilität junger Nutzer bergen, ist nichts Neues. Doch noch immer wird ihr Einfluss unterschätzt. Helena Kerschner, eine junge Detransitioniererin aus den USA, die einige Jahre lang Testosteron nahm und als Mann lebte, schreibt besonders einer Webseite ihre problematische Geschichte mit ihrem Geschlecht zu: "Tumblr".
Tumblr ist ein Mikroblog, den es bereits seit Mitte der 2000er gibt. Im Gegensatz zu Webseiten wie YouTube hat Tumblr hauptsächlich weibliche Nutzer. Während soziale Netzwerke wie Instagram und Twitter im öffentlichen Diskurs bekannt sind, fliegt Tumblr noch immer ein Stück weit unter dem Radar und das, obwohl die Webseite der Brutkasten für viele "Social-Justice"-Themen ist, die das liberale Twitter dann Monate später bewegen.
Flirt mit dem Selbsthass
Tumblr-Nutzer bleiben meistens anonym und füllen ihre Blogs mit Fotos, Videos oder kurzen schriftlichen Beiträgen, bei denen es meistens um die Lieblings-Band, die Lieblings-Serie oder einen bewunderten Star geht. Die Beiträge können Nutzer dann auf ihren eigenen Blogs wieder teilen, wobei sie oft einen eigenen kurzen Kommentar darunterschreiben. Diese Dynamik ist perfide. Sie lädt dazu ein, kritisches Denken über Bord zu werfen. Inhalte werden durch die Nutzer selbst scharf überwacht und, falls sie durchfallen, mit sozialen Repressalien geahndet.
Kerschner erklärt, dass die Tumblr-Kultur besonders emotional instabile Mädchen anzieht, die sich oft als Außenseiter identifizieren. Sie habe sich durch familiäre Probleme und eine Essstörung von Schulfreunden zurückgezogen und über ihre Leidenschaft für Elvis Presley auf Tumblr Gleichgesinnte gefunden. Doch durch den Fokus auf Inklusivität und Rücksichtnahme unter dem Einfluss von Gendertheorie sei auf Tumblr eine Atmosphäre entstanden, die die Zugehörigkeit zu "weniger privilegierten" Gruppen sozial belohnte also Nicht-Weiße und LGBTQ-Personen. "Das war der Anstoß, um meine Gedanken und Erinnerungen weiter zu durchforsten, ob ich nicht doch tief drinnen ein Junge und kein Mädchen war", schreibt Kerschner auf ihrem Blog.
Umstrittene Blogs
Tumblr hat schon seit Jahren ein ungutes Verhältnis zu psychischen Krankheiten. Erst 2012 verbot Tumblr sogenannte "Self-Harm"-Blogs, also Seiten, die Selbstverletzung, Depression und Suizid glorifizierten oder ästhetisierten. Doch auch heute noch wird man fündig, wenn man bei Tumblr "depressiv" oder "suicide" sucht. Wenn man das Pop-Up-Fenster wegklickt, das auf Suizidprävention hinweist, findet man hunderte Beiträge wie diese, mit tausenden von Reaktionen: "Du weißt, dass es ein schlechter Tag wird, wenn das Ritzen alles ist, woran du denken kannst" oder "Habt ihr auch schon mal ein Kind angeschaut und euch gewünscht, so dünn und psychisch stabil zu sein?" Inhalte, um sich mit einer psychischen Störung zu identifizieren, gibt es zuhauf.
Ein weiteres Beispiel dafür sind die "Pro-Ana"-Blogs. Die Abkürzung steht für "Pro Anorexia", also Pro-Magersucht. Die Nutzerinnen spornen sich darauf gegenseitig zum Abnehmen an, posten ihr Gewicht, ihre Essensgewohnheiten, und Bilder von abgemagerten Körpern als Inspiration. Auch Memes gibt es dazu, lustige Bildchen, die die Essstörung aufs Korn nehmen allerdings nicht, um sich von der Krankheit zu distanzieren, sondern um sie als Lebensstil zu normalisieren. Da Inklusivität auf Tumblr oberstes Gebot ist, gibt es zahlreiche Beiträge, die darauf hinweisen, für die Zugehörigkeit zur Magersüchtigen-Community brauche man kein bestimmtes Gewicht. Es reicht, krank sein zu wollen.
Für immer androgyn
Für den Jugendforscher Martin Voigt ist dieses Phänomen ein Symptom einer gestörten Pubertät. Voigt forscht über die Auswirkungen von sozialen Medien besonders auf junge Mädchen. Diese Zeit der Identitätsfindung werde durch die sozialen Netzwerke verändert. "Der Schulalltag wird durch Instagram, Facebook und andere Netzwerke ins Virtuelle gespiegelt und verlängert", erklärt er gegenüber dieser Zeitung. Man könne dadurch nicht mehr aus dem Schülermodus und dem Kampf ums Beliebtsein aussteigen. Außerdem werde die Familienzeit reduziert. Gefährdet seien dabei besonders psychisch labile Personen: "Soziale Medien können zur virtuellen Ersatzgemeinschaft werden, wenn etwas in der persönlichen Bindungsgeschichte nicht stimmt", so Voigt.
Für einen Zusammenhang gibt es auch bereits erste wissenschaftliche Belege: Die amerikanische Professorin Lisa Littman, die den Begriff ROGD ("Rapid-Onset-Gender-Dysphoria") prägte, fand in einer Studie Hinweise darauf, dass der Transitions-Wunsch biologischer Mädchen, die keine Vorgeschichte mit Geschlechtsdysphorie hatten, mit einer verstärkten Internetnutzung und Gruppenzwang zusammenhängen könnte.
Die Ablehnung der Weiblichkeit lässt sich an der Bildsprache auf Tumblr gut ablesen. Kerschner weist darauf hin, dass die Blogs von jungen Transgender-Mädchen voll von Zeichnungen und Fotos von androgynen, schmalen Jungen mit bunten, kurz geschnittenen Haaren sind. In enger Jeans und übergroßen Hoodies. Das Idealbild des Transgender-Jungen ist kein maskuliner Typ, sondern fast präpubertär. Der Traum, nicht erwachsen zu werden, sich den Herausforderungen der Erwachsenenwelt nicht zu stellen seine Erfüllung rückt ins Reich des Möglichen.
Doch zu welchem Preis?
Leben als Frau
Helena Kerschner hatte Glück. Sie musste nur die Hormone absetzen, um zu detransitionieren und ihr Leben als Frau weiterzuführen. Ihre Geschichte zeigt, dass der Leidensdruck junger Menschen hoch ist und online nicht selten ausgenutzt und verstärkt wird. Andere, wie der Tik-Tok-Nutzer "demoralizedpup", der seinen Uterus in einem Glas mit nach Hause mitgenommen hat, werden sich ein Leben lang an ihre Entscheidung erinnern.
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