Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Entwicklungspsychologie

Sexuelle Bildung: Affirmation statt Auseinandersetzung?

Im Hamburger Rahmenkonzept für katholische Schulen wird die jugendliche Fluidität im Bereich sexueller Orientierung ausgeblendet. Eine kritische Betrachtung.
Figuren von Mann und Frau, drittes Geschlecht divers *** Figures of man and woman third sex diverse
Foto: Christian Ohde via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Das Hamburger Rahmenkonzept für Sexuelle Bildung spricht sich für eine „gendergerechte Beziehungsethik“ aus, die vermittelt, dass „es bei der Beurteilung von Sexualität nicht um die Form, sondern um die ethische ...

Das „Rahmenkonzept für Sexuelle Bildung“ an den katholischen Schulen im Erzbistum Hamburg ist ein ambitionierter Versuch, eine moderne, akzeptanzorientierte Sexualpädagogik im kirchlichen Schulraum zu etablieren. Es versteht sich – programmatisch – nicht als theologisches, sondern als pädagogisches Konzept; und klingt zunächst auch danach. Vor allem, wenn es von der Unterstützung des jungen Menschen in seiner Identitätsfindung und Persönlichkeitsentwicklung spricht (S. 33). Gleichwohl sucht man vergeblich, wie diese Unterstützung realisiert werden soll. Denn an keiner Stelle wird auf die subjektive Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität eingegangen, vielmehr wird von dem „Ja zu sich selbst“ gesprochen und der Herausbildung eines gesunden Selbstbewusstseins, das hilft, zu seiner sexuellen Orientierung zu stehen (S. 25). Entsprechend steht in seinem Zentrum die Anerkennung sexueller Vielfalt, der Schutz vor Diskriminierung und die Förderung einer Sexualität, die fortpflanzungsentbunden und in verschiedenen Lebensformen verwirklicht werden kann. Explizit richtet sich das Konzept an der Sexuellen Bildung aus, die dem sexualpädagogischen Denken Uwe Sielerts entspringt. Dort wird Sexualität verstanden als lebensbegleitende Energie, die wie die Musikalität durch aktivierendes Handeln in jedem Lebensalter – vom Kleinkind bis zum alten Menschen – gefördert werden muss. Das Konzept wirbt um Weltoffenheit, indem es die Lebensrealität junger Menschen, die von sexueller Vielfalt umgeben sei, ernst nimmt, anerkennt und schulisch begleitet.

Lesen Sie auch:

Doch gerade in dieser Weltoffenheit verbirgt sich der blinde Fleck – nämlich der Blick nach innen, auf die subjektiven, biografischen und konflikthaften Dimensionen sexueller Entwicklung, die junge Menschen vor allem in der Adoleszenz durchlaufen. Die zentrale Bildungsaufgabe, wie sie in geisteswissenschaftlicher und entwicklungspsychologischer Tradition verstanden wird, nämlich das Verstehen seiner selbst in einer fragwürdig gewordenen Welt, bleibt laut dem Pädagogen Klaus Mollenhauer weitgehend unberücksichtigt. Die anthropologische Tiefe, welche Bildung als ein Ringen um innere und biografische Kohärenz und sinnhafte Verortung im Leben begreift, ist im Hamburger Papier kaum zu finden. Stattdessen dominiert ein affirmativer Ton: Sexualität ist positiv, vielfältig und gesellschaftlich genauso gewollt. Unter dem Vorzeichen eines expressiven Individualismus werden die inneren Fragen junger Menschen affirmativ mit einem „Ja zu sich selbst“ übersprungen.

„Missionierung“ der Eltern

Diese Stoßrichtung wird besonders deutlich im Abschnitt, in dem das Konzept Lehrer mit fiktiven Dialogen auf die Missionierung derjenigen Eltern vorbereitet, die „ihre ablehnende Haltung gegenüber einer ‚Sexualpädagogik der Vielfalt’ äußern (S. 45). Aussagen wie „Die Schüler_innen werden durch die Aufklärung zu früh mit dem Thema Sexualität konfrontiert“ werden mit pädagogisch „korrekten“ Antworten konfrontiert, die vorgegebene Erklärungswege anbieten: Vielfalt sei Realität, Schule müsse darauf vorbereiten, alles andere sei rückständig oder sogar diskriminierend. Diese rhetorische Struktur lässt wenig Zweifel daran, dass es dem Konzept nicht um Dialog im eigentlichen Sinne geht, sondern um Überzeugung – auch gegen den Widerstand des Gegenübers. Was hier geschieht, ist der Versuch einer pädagogischen Normsetzung, die alle Widersprüchlichkeit ins Abseits drängt, welche Jugendliche in ihrer sexuellen Entwicklung vom ersten Überraschtwerden erotischen Empfindens bis hin zur Verunsicherung über ihren sich entwickelnden Geschlechtskörper empfinden. Das, was im politischen Raum Indoktrination genannt wird – das Verengen pluraler Denkbewegungen auf eine vordefinierte Richtigkeit –, droht hier zum Bestandteil schulischer Bildung zu werden.

Das zeigt sich gerade in dem, was das Konzept nicht thematisiert: So wird unter dem Aspekt des Sichtbarmachens von „Homosexualität und Transidentität“ als Teil der Realität (S. 47) die Fluidität im Bereich sexueller Orientierung, die im Jugendalter vielfach empirisch belegt ist, ausgeblendet. Genauso wird verschwiegen, dass 60 – 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die sich einer Transidentität zuordnen, es irgendwie während der Pubertät schaffen, sich mit ihrem biologischen Geschlecht zu versöhnen. Sicher, Homosexualität und Transidentitäten sind heute gesellschaftliche Realität. Mit Blick auf die Forschung muss aber bezweifelt werden, ob das Konzept von „Homosexualität“ und „Transidentität“, auf das sich die Sexuelle Bildung zu beziehen scheint, der wissenschaftlich bestätigten Instabilität dieser Orientierungen im Jugendalter standhält. So gehört die Herausbildung der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität zwar zur subjektiven Entwicklung im Jugendalter, sie fordert aber nicht sofortige Affirmation, sondern Raum für Ambivalenz, Zweifel und Reversibilität. Wenn ein Kind sich als „anders“ erlebt, braucht es nicht nur den Spiegel gesellschaftlicher Akzeptanz, sondern vor allem den Ort für Fragen ohne vorgegebene Antworten. Gerade dieser Ort bleibt im Hamburger Konzept unterbelichtet – obwohl die Bildungsforschung längst weiß: Identität ist nicht Gabe, sondern Aufgabe.

Werden hier Entwicklungsprozesse abgekürzt?

Auch der vielzitierte Kompetenzansatz von Stephan Leimgruber, durch den sich das Hamburger Konzept eines ganzheitlichen sexualpädagogischen Ansatzes rühmt, wird in diesem Licht problematisch. Ziel ist, Akzeptanz zu zeigen, sich sprachlich angemessen zu verhalten, kritisch mit Medien umzugehen – alles im Horizont einer pluralen, gleichberechtigten Gesellschaft. Was fehlt, ist der Raum zur subjektiven Divergenz, für Krisen und Brüche im Selbstverständnis, für die inneren Konflikte Heranwachsender, die sich nicht in Kompetenzrastern messen lassen.

Die Entwicklungspsychologie verweist auf diese innere Spannung im Erleben, wenn sie davon spricht, dass der junge, adoleszente Mensch sich, konfrontiert mit seiner inneren, biologischen Entwicklung, in einer Spannung zwischen Selbstakzeptanz und sozialer Anerkennung befindet. Umgetrieben von diesem Spannungsverhältnis orientiert er sich oft an Informationen, Identitätsangeboten, Definitionen der Umwelt, gleichzeitig dürfen aber gerade diese das Individuum nicht vereinnahmen. Der junge Mensch muss sich selbst finden und verstehen. Dazu muss Bildung Wissen vermitteln, das den Lernenden aber nicht seiner selbst entfremdet oder seines eigenen Urteils und seiner eigenen Entscheidung beraubt, sondern sein Selbstverstehen erhöht. Genau an dieser Stelle droht das Hamburger Konzept in eine paradoxe Bewegung zu geraten: Es propagiert Vielfalt und individuelle Freiheit, fordert aber gleichzeitig eine kulturell vorstrukturierte Annahme dieser Vielfalt und eines „Ja zu sich selbst“, das geeignet ist, Entwicklungsprozesse abzukürzen. Geschuldet ist dies der Festlegung auf das Konzept der Sexuellen Bildung, dem ostentativ Wissenschaftlichkeit bescheinigt wird, ohne dass dessen Herkunft oder Theoriebildung was das Thema „Sexualität“ oder „Geschlechts-identität“ betrifft, kritisch hinterfragt wird. Gleichzeitig wird übersehen, dass dem Konzept der expressive Individualismus inhärent ist. Danach ist alles gut, was als authentischer Ausdruck des Selbst erscheint. Dadurch unterliegt dem Konzept eine Normsetzung, die nicht zur Disposition steht.

Jugendliche unter Druck

Der paradoxe Effekt: Jugendliche, die sich in diesem normativen Muster nicht wiederfinden, etwa, weil sie ihre Sexualität als widersprüchlich, ihr Begehren als konflikthaft oder ihre Geschlechtsidentität als unsicher erleben, stehen unter dem Druck, ihr Erleben positiv als Ausdruck ihrer wahren Identität zu bewerten, die selbstbewusst verwirklicht werden muss. Wo früher sexuelle Orientierungen aus Angst vor sozialer Ablehnung unterdrückt wurden, droht heute ein neuer Konformitätsdruck: „Sei du selbst – aber bitte eindeutig und identitätsstark!“ Bildung aber muss jedem Konformitätsdruck widerstehen, denn sie vollzieht sich gerade dort, wo es um entwicklungsrelevante Inhalte geht, im Zwielicht des Werdens, Suchens und Zweifelns. Bildung ist damit ein Prozess, der geprägt sein darf von Fragen, Irritationen und Widerständen.

Sexualität ist kein Sachverhalt, den man einfach „erklären“ oder „benennen“ kann – sie ist ein Teil des unverfügbaren Selbst, ein Ort des Geheimnisses, der Verletzbarkeit, der Sehnsucht. Eine Sexualpädagogik, die dem gerecht werden will, muss mehr sein als das Vermitteln sozialer oder gar ideologischer Normsetzungen. Sie muss Räume schaffen für biografisches Erzählen, für Schweigen, Nicht-Wissen, für tastendes Sich-Verstehen jenseits vorgefertigter Identitäten.

Genau dafür muss ein sexualpädagogischer Bildungsprozess Informationen bereitstellen, er muss die von ihm vermittelten Sexualitäts- und Identitätskonzepte offenlegen und muss dabei den wissenschaftlichen Forschungsstand beachten. Indem das Hamburger Konzept nur die Theorie der Sexuellen Bildung präsentiert und die dort umstrittene Sexualpädagogik der Vielfalt missionarisch durchsetzen will, bleibt es bildungsarm. Zudem versäumt es über alle Weltoffenheit und Erziehung zur Annahme von Vielfalt, das innere Erleben, die entwicklungspsychologisch gut nachgewiesene Widersprüchlichkeit der Integration von Sexualität und Geschlechtsidentität Heranwachsender einzubeziehen. Damit geht es an der selbstgesetzten Orientierung am Menschen und vielbeschworenen Ganzheitlichkeit nicht nur vorbei, sondern ignoriert das, was junge Menschen wirklich in ihrem Inneren in den sensiblen Entwicklungsphasen von Kindheit und Jugend bewegt.

Der Autor ist Entwicklungspsychologe, Sexualberater und praktischer Theologe. Er leitet den Studiengang entwicklungssensible Sexualpädagogik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Heiligenkreuz in Österreich.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Themen & Autoren
Markus Hoffmann Erzbistum Hamburg Hochschule Heiligenkreuz Katholische Schulen

Weitere Artikel

Kentler, Sielert & Co.: Das neue Rahmenkonzept für sexuelle Bildung im Erzbistum Hamburg erstaunt. Dass „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ Missbrauchsprävention sein soll, ist unhaltbar.
04.09.2025, 21 Uhr
Susanne Hartfiel
Skandaldokument? Eigentlich wollte die DBK ein neues Orientierungspapier zum Umgang mit LGBTQ-Schülern in katholischen Schulen verabschieden. Das steht im vorerst abgelehnten Dokument.
04.07.2025, 20 Uhr
Jakob Ranke

Kirche

In Rom hatte Arnold Schwarzenegger seinen großen Auftritt und trifft heute mit Leo XIV. zusammen. Anlass ist eine Klima-Konferenz im Geist von Papst Franziskus.
01.10.2025, 09 Uhr
Guido Horst