Plötzlich ist Familie interessant – auch für Politik und Wirtschaft. Und es kommt nicht von ungefähr, daß gerade in Zeiten der Lockerungen, also wenn die Arbeitskräfte wieder gebraucht werden, der Bundestag über Kinder und Corona debattieren will – zum Beispiel am morgigen Freitag – und daß mehrere Studien die Befindlichkeit der Eltern und Familien wissenschaftlich unter die Lupe nehmen. Kurzum, es ist nicht abwegig festzustellen, daß Politik und Wirtschaftsfunktionäre nichts gelernt haben: Sie betrachten Familie in Funktion der Arbeitswelt.
Medizinisch-biologische Studien
Bei den Studien allerdings gilt es zu unterscheiden. Da sind zum einen die gesundheitlichen oder medizinischen Untersuchungen, die in mehreren Bundesländern in diesem Monat angelaufen sind und die mittels mehr oder weniger breit angelegter Versuchsreihen das Infektionsgeschehen bei Kindern erforschen sollen. Dafür werden massenweise Tests durchgeführt, entweder in Kliniken oder durch die Eltern zuhause. In Düsseldorf zum Beispiel sollen rund 5000 Teilnehmer vier Wochen lang zweimal wöchentlich ihre Proben abgeben, in Bayern werden 3000 Kita-Kindern in verschiedenen Städten und Orten Rachenabstriche und Speichelproben entnommen, in Hamburg und Baden-Württemberg werden Kind und Eltern auf Antikörper untersucht. Wie schon die Heinsberg-Studie und auch die umstrittene Studie des Berliner Virologen Drosten verfolgen alle diese Untersuchungen das Ziel, gesicherte Erkenntnisse über Eigenarten und Ansteckungsgefahren des Virus zu gewinnen. Aus diesen wissenschaftlichen Befunden kann man dann, von ihrem naturwissenschaftlichen Erkenntniswert abgesehen, Folgerungen über notwendige Hygiene-Massnahmen und Verhaltensregeln in Kitas und Schulen ableiten.
Soziologische und psychologische Untersuchungen
Komplizierter und nicht so eindeutig wie bei den medizinisch-biologischen Studien verhält es sich bei den soziologischen und psychologischen Untersuchungen. Das liegt einerseits an den Methoden selbst, andererseits an der Zuverlässigkeit der Aussagen. Naturwissenschaftliche Messungen sind schlicht faktischer als Umfragen. Demoskopisch kann man im Sinne von Churchills Diktum über die Statistiken so ziemlich jedes gewünschte Ergebnis erfragen. Dann steckt man das Ergebnis in eine Bertelsmann-Kladde, pustet es über die Medien in den Diskurs und macht so vermeintlich Druck auf die Politik, die solche Studien schon lange nicht mehr hinterfragt. Ganz so einfach hat es sich der Forschungsverbund „Kindheit-Jugend-Familie in der Corona-Zeit“ (https://doi.org/10.18442/121) aber nicht gemacht. Es handelt sich um die umfangreichste Umfrage unter Familien in allen 16 Bundesländern, beteiligt waren rund 30.000 Familien. Geantwortet haben vor allem Mütter im Homeoffice. Die Ergebnisse sind differenziert und reichen von Dankbarkeit über die Zeit der Entschleunigung bis hin zu Stress, depressiven Passagen und Burnout-Ängsten.
Belastung der Familien
Bei näherem Hinsehen ist das vor allem eine Frage der Belastung. Familien, in denen die Hausarbeit, die Betreuung der Kinder inklusive Homeschooling aufgeteilt wurde, so daß auch das Homeoffice mehr oder weniger ungestört gehandhabt werden konnte und in denen es auch in Haus oder Wohnung Rückzugsräume gab, kamen die Eltern gut mit der Situation zurecht. Alleinerziehende dagegen, die keinerlei Hilfe hatten und alles gleichzeitig stemmen mussten, waren nach wenigen Wochen am Ende ihrer Kräfte und nach weiteren Wochen am Rand des Burnouts. Alle anderen Aussagen bewegen sich irgendwie zwischen diesen beiden Polen. Natürlich war auch die Belastung für Familien, in denen ein Elternteil, in der Regel die Mutter, auch sonst nur einer kleinen Teilbeschäftigung außer Haus nachgeht, in Corona-Zeiten stärker als sonst, aber eben doch erträglich. Und natürlich hängt alles auch vom Alter der Kinder, ihrer Zahl und vom Geldbeutel der Familie ab. Nun kann man fragen: Wundert das jemanden? Wurden hier nicht mit erheblichem Aufwand Selbstverständlichkeiten erfragt und untersucht?
Politische Konsequenzen?
Nicht ganz. Die Not von Alleinerziehenden und kinderreichen Familien wurde erneut deutlich. Ob die Politik damit etwas anfängt? Das ist kaum zu erwarten, die Wählerneigungen dieser Familien stehen meist fest und kann man sich, so dürfte man im politischen Berliner Betrieb denken, mit Versprechen in Wahlkampfzeiten erkaufen. Aber es kann auch sein, daß diese Familien sich die Erfahrungen der Corona-Zeit zu Herzen nehmen und bei den Versprechen genauer hinschauen oder sich sagen: Wer uns in der Not sitzen lässt, wird es auch nach Wahlen tun, also geh ich gar nicht erst wählen, lohnt nicht.
Option Homeschooling
Ein anderer Trend befasst sich mit dem Schulsystem. Manche Mütter, so die Studie, stellen sich die Frage, ob Homeschooling nicht eine sinnvolle Option sein kann. In Deutschland herrscht Schulpflicht, in fast allen europäischen Ländern dagegen Bildungspflicht. Wer sich intensiver mit dieser Frage befasst, wird zudem feststellen, daß Homeschool-Kinder in den USA oder in Europa überdurchschnittlich gut gebildet und auch erfolgreich im Beruf sind. Die Schulpflicht ist ein Relikt vergangener Zeiten. Sie kommt vor allem Ideologen zupass, die Kinder als Manipulationsmasse betrachten und den „neuen Menschen“ formen wollen, etwa im Sinn der Gender-Ideologie oder auch des Klima-Fundamentalismus oder auch eines aggressiven Laizismus. Diese Ideologen wollen unbedingt an der Schulpflicht festhalten.
Häusliche Gewalt
Homeschooling wäre ein programmatisches Thema für die Union, auch für die FDP. Von den Linksparteien von grün bis tiefrot ist das nicht zu erwarten. Sie stürzen sich auf andere Studien, etwa der TU München, aus der hervorgeht, daß die Corona-Zeit für zehn Prozent der Kinder und sieben Prozent der Frauen eine Zeit häuslicher Gewalt war. Vor allem Familien mit Kindern unter zehn Jahren – die können sich kaum wehren – waren davon betroffen. Für ein Ansteigen der häuslichen Gewalt in Corona-Zeiten spricht auch der Anstieg der Anrufe bei Not-Hotlines für Kinder wie „Nummer gegen Kummer“ oder für Frauen „Gewalt gegen Frauen“. Gleichzeitig sank die Zahl der Meldungen bei Jugendämtern. Eine Beratungsstelle anzurufen geht eben leichter von der Hand als eine Meldung beim Jugendamt abzugeben. Außerdem sind es vor allem Lehrer und Erzieherinnen, die den Ämtern Hinweise geben.
Linksgrün will Kindergipfel
Das linksgrüne Lager will die Situation nun nutzen, um die Bundesregierung zu einem Kindergipfel zu bewegen und ihr altes Thema der Kinderrechte im Grundgesetz zu pushen. Dem soll auch die Debatte am Freitag im Bundestag dienen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn sich die nach linksgrün tendierende Bundeskanzlerin auch für einen Kindergipfel ausspräche. Das Thema ließe sich medial gut vermarkten und damit könnte man auch den Druck auf eine Grundgesetzänderung erhöhen. Als Kanzlerin der Kinderherzen von der Bühne zu gehen, unter nachhaltigem Applaus der öffentlich-rechtlichen Medien sowie der Grünen und Linken, gehört zu den vorstellbaren Abschiedsszenen. Dass das fragile Dreiecksverhältnis zwischen Staat, Eltern und Kindern nachhaltig Schaden nähme, wäre für sie wohl nur Teil der kommenden gesellschaftlichen Sintflut.
Qualität von Einrichtungen
Unabhängig von der Betreuung und Versorgung von Kindern in Kitas und Schulen will eine laufende Studie sich jetzt auch mit der Qualität dieser Einrichtungen befassen. Das Institut TopKita, die Online-Plattform zur Mess- und Steuerung von Kita-Qualität, fragt gemeinsam mit der Initiative „Kinder brauchen Kinder“ nach der Qualität. „Kinder brauchen Kinder“ hatte die Petition zur Öffnung der Kindertagesstätten und Grundschulen gestartet. Für ein aktuelles Meinungsbild der Eltern über die Kita-Qualität haben die zwei Projektpartner eine Umfrage auf https://www.topkita.de/corona mit knapp 50 Fragen gestartet. Im Fokus stehen unter anderem Qualitätskriterien für Kitas, die jeweils vor und während der Corona-Zeit beurteilt werden müssen. Das Ergebnis soll dazu beitragen, die Interessen von Kindern und Familien besser vertreten zu können und so die Qualität in deutschen Kitas weiter zu optimieren.
Die Umfrage läuft vorerst bis 22. Juni. Man will „möglichst viele Elternstimmen sammeln. Denn wir erkennen, welche Auswirkungen die aktuelle Situation – also keine bis wenig Kita-Betreuung – in Bezug auf Qualität in der Kita-Betreuung hat“. Man mag über die Kriterien und Intentionen diskutieren. Aber immerhin wird nach der Qualität gefragt, was die Politik seit der Krippen-Offensive vor 14 Jahren versäumt. Heute sind die Folgen dieses Versäumnisses zu besichtigen: Das Kindeselend boomt, die Zahl der Logopäden etwa explodiert, weil die Sprache sich aus Emotionen entwickelt und das ist in jeder Kita im Vergleich zur Mutterliebe immer Mangelware. Freilich, jeder Einzelfall ist anders gelagert, weil jede Familie einzigartig ist.
Der Pferdefuß der Studien
Hier ist der Pferdefuß fast aller soziologischen Studien: Man geht immer von den Bedürfnissen der Erwachsenen aus, das Kindeswohl rangiert immer in Funktion zu den „Notwendigkeiten“ der Wirtschaft oder der erwerbstätigen Mütter. Dabei führen Wirtschaft und Gesellschaft wesentlich besser, wenn man mehr Rücksicht auf die Familie als solche nähme. Das hat jetzt der amerikanische Familienforscher Pat Fagan eindrucksvoll in einem Aufsatz mit Zahlen und Fakten belegt, der in deutscher Sprache auch auf der Webseite von „Demo für alle“ nachzulesen ist (https://demofueralle.blog/2020/06/12/der-wohlstand-der-nationen-beruht-auf-der-gesundheit-der-familien/). Diese Lektüre lohnt sich.
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