Wir alle wünschen uns, dass unsere Kinder erfolgreich erwachsen werden – reif und in der Lage, ein gelingendes Leben in gelingenden Beziehungen zu führen. Doch ein Blick in unsere Gesellschaft zeigt uns schmerzlich, dass dies immer seltener der Fall ist. Kindererziehung – eine der herausforderndsten Aufgaben überhaupt – wird immer schwieriger. Die Kultur hat ihre Weisheit verloren, die Gesellschaft bietet kaum noch Unterstützung, und der Zugang zu unserer natürlichen Intuition scheint zugeschüttet mit falschen Dogmen, die einer gesunden Reifeentwicklung eher im Weg stehen als sie zu fördern.
Reifeentwicklung geschieht spontan, doch sie ist nicht unausweichlich. Wir werden zwar zwangsläufig älter, wenn wir lange leben, aber nicht automatisch erwachsen im Sinne von reif. Es bedarf bestimmter Bedingungen, damit sich im Menschen diese Potenzialentfaltung zu einem reifen Individuum vollziehen kann. Fehlen sie, bleibt er unreif.
Was ist Reifeentwicklung und wie verläuft sie?
Beim Menschen verhält es sich im übertragenen Sinn genauso wie bei einer Pflanze: Sie benötigt bestimmte Voraussetzungen, um Wurzeln, Stiel, Blätter und Blüten hervorzubringen. Jede Pflanze benötigt einen Ort, in den hinein sie gepflanzt wird, den Boden, aus dem sie Nährstoffe für ihr Wachstum zieht, in den hinein ihre Wurzeln wachsen und in dem diese Halt finden können, sowie Luft, Wasser, Sonne und/oder Schatten. Diese Bedingungen bilden den Kontext, innerhalb dessen eine Pflanze wachsen und blühen kann. Ein guter Gärtner wird sie zudem solange einhegen und vor Unwetter schützen, bis ihre Wurzeln stark und tief genug sind, um davon nicht beschädigt oder aus ihrem für ihr Wachstum nötigen Kontext herausgerissen zu werden. Je mehr Wurzeln eine Pflanze heranbilden kann und je tiefer diese sind, desto widerstandsfähiger ist sie. Sie ist am ehesten in der Lage, ihre Pracht in Gänze zu entfalten und ungünstige Witterung zu überstehen.
Das Wachstum selbst kann ein Gärtner weder machen noch lehren. Wir können einer Eichel nicht beibringen, ein Eichenbaum zu werden. Ebenso wenig können wir eine Raupe lehren oder ihr erklären, ein Schmetterling zu werden. Auch können wir diese Entwicklung nicht beschleunigen. Einen Menschen können wir ebenfalls nicht durch Unterweisung dazu bringen, reif zu werden. Jeder Mensch – selbst ein Alkoholiker-Kind –, trägt von Anbeginn das Potenzial in sich, als Mensch ganz menschlich zu werden und die Früchte einer reifen Persönlichkeit hervorzubringen und zwar unabhängig von seiner Intelligenz, seiner intellektuellen Bildung oder seinen individuellen Talenten. Auch ein autistisches und sogar das einfältigste Kind kann Fortschritte in seiner Reifeentwicklung machen. Doch damit sie geschehen kann, bedarf es bestimmter Bedingungen.
Welche Bedingungen das sind und wie wir sie für unser Kind bereitstellen können – mit diesen und ähnlichen Fragen hat sich der renommierte Bindungsforscher und klinische Entwicklungspsychologe Gordon Neufeld (Vancouver, B.C.) intensiv befasst. In über 40-jähriger Forschungsarbeit hat er aus allen Bindungstheorien eine allgemeine, ganzheitliche Bindungstheorie entwickelt, in der er die neuesten Ergebnisse aus Entwicklungspsychologie, Neurowissenschaft, Tiefenpsychologie und Anthropologie integriert und zu einem kohärenten Modell zusammengefügt hat. Sein bahnbrechendes Modell für einen bindungsfreundlichen Entwicklungsansatz hat sich in der Praxis erfolgreich bewährt. Es ermöglicht uns, unser Kind von innen heraus zu verstehen und zu erkennen, was es von uns braucht, um eine reife Persönlichkeit heranbilden zu können.
Reife als lebenslanger Prozess
Der Reifwerdungsprozess ist ein lebenslanger Prozess, der sich unter bestimmten Bedingungen vollzieht. Genau genommen handelt es sich nicht um einen einzigen, sondern um drei Prozesse, die allerdings miteinander verwoben sind wie ein Mobile. Der erste Prozess ist der Emergenz-Prozess; manche nennen ihn Differenzierungs- oder Individuationsprozess. Er beinhaltet diese emergierende, diese Aufbruchsenergie, die das bekannte Kinderlied „Hänschen klein ging allein“ so trefflich beschreibt. In Kindern drückt sie sich häufig aus mit Ausrufen, wie „alleine machen“, „selber essen“, „alleine laufen“ usw. Die Früchte dieses Prozesses sind die ersten beiden der sechs Früchte gelungener Reifeentwicklung: (1.) die Lebensfähigkeit als eigenständige Person, sowie (2.) eine Vitalität, die auch bei der Trennung von den vorhandenen Bindungen bewahrt bleibt.
Der zweite Reifeprozess ist der Adaptionsprozess. Er befähigt uns, uns mit dem abzufinden, was wir nicht ändern können, sodass es uns verändern kann. Und zwar verändern in dem Sinn, dass wir an einem widrigen Umstand reifen anstatt daran zu zerbrechen. Dieser Prozess vollzieht sich immer dann – und nur dann – wenn eine Vergeblichkeit emotional so tief einsinken kann, dass wir die Traurigkeit spüren können über das, was da gerade nicht funktioniert oder schiefgelaufen ist (trotz unserer Versuche, etwas daran zu ändern). Es genügt nicht, dass wir wütend oder ärgerlich sind über eine Situation und sie vom Kopf her „verstanden“ haben. Die Früchte dieses Prozesses sind (3.) Erfindungsreichtum und Einfallsreichtum im Angesicht von Problemen, sowie (4.) Resilienz, wenn ein Missgeschick oder ein Unglück passiert ist.
Den dritten Reifeprozess bildet der Integrationsprozess. Er ist die Krönung dieser Entwicklung und entwickelt sich zuletzt. Durch ihn werden wir zu sozialen Wesen. Seine Früchte sind (5.) die Fähigkeit, Rücksicht auf Andere zu nehmen und gleichzeitig man selbst bleiben zu können, also sich nicht dabei zu verlieren, und (6.) Ausgeglichenheit und Beherrschung in Erfahrung und Ausdruck. Zusammenfassend und in anderen Worten: Ein reifer Mensch geht zuversichtlich durchs Leben. Er ist ausgeglichen, fähig zu Selbstbeherrschung. Er ist belastbar, er zerbricht nicht an den Widrigkeiten des Lebens, sondern reift an ihnen, und er ist integrationsfähig, also sozial.
Darüber hinaus bringen diese Attribute weitere wünschenswerte Eigenschaften hervor, wie Verantwortungsbereitschaft, Dankbarkeit, Hilfsbereitschaft, Empathie, Freundlichkeit, Fürsorglichkeit, Ausdauer, Friedfertigkeit, Kreativität sowie optimale Bedingungen für Moral- und Tugendentwicklung – um nur einige zu nennen. Keine einzige von ihnen ist ererbt. Keine davon kann gelehrt werden. Und es gibt keine Pille, die sie herbeiführen könnte. Diese Fähigkeiten können nur heranwachsen.
„Wir können unser Kind noch so sehr lieben, aber wenn es dieser Liebe aus welchen Gründen auch immer nicht trauen kann oder sie nicht als gesichert erlebt, können wir ihm unsere Liebe nicht verfügbar machen. In richtiger Weise gebunden ist unser Kind, wenn es sicher und geborgen an uns gebunden ist. Dann und nur dann kann es dieser Bindung vertrauen und in ihr ruhen.“
Was braucht das Kind von seinen Eltern?
Es braucht eine richtige, geborgene Bindung, und es braucht ein weiches Herz. Das sind die beiden Grundvoraussetzungen. Sind sie vorhanden, können wir die drei nicht weiter reduzierbaren Grundbedürfnisse eines Kindes erfüllen: sein Bedürfnis nach echtem Spiel, nach Ruhe und, wer hätte das gedacht, nach Tränen. Bindung ist der entscheidende Schlüssel und der Schoß der Reifwerdung für das heranreifende Individuum. Sie bildet den Kontext, innerhalb dessen wir ein Kind erst erziehen können. Denn Unreife – also alle Kinder und Jugendlichen – können nur von denen lernen, an die sie gebunden sind. Und sie hören auch nur auf die, an die sie gebunden sind. Daher bildet Bindung – ich wiederhole es, weil sie entscheidend ist – die Grundlage für jede Erziehung.
Was hier zählt, ist weniger die Eltern-Kind-Bindung, sondern vielmehr die Kind-Eltern-Bindung, die Beziehung des Kindes zu mindestens einer erwachsenen, fürsorglichen Hauptbezugsperson, die Verantwortung für es übernimmt; in der Regel sind das die Eltern oder ein Elternteil. Das bedeutet: Wir können unser Kind noch so sehr lieben, aber wenn es dieser Liebe aus welchen Gründen auch immer nicht trauen kann oder sie nicht als gesichert erlebt, können wir ihm unsere Liebe nicht verfügbar machen. In richtiger Weise gebunden ist unser Kind, wenn es sicher und geborgen an uns gebunden ist. Dann und nur dann kann es dieser Bindung vertrauen und in ihr ruhen.
Bindung ist ein Trieb, der durch das Streben nach Nähe und eine Beziehung, die durch das Bewahren dieser Nähe gekennzeichnet ist. Sie besitzt drei Eigenschaften: Bindung ist hierarchisch, sie ist polar, und sie entwickelt sich in Stufen. Diese drei Eigenschaften von Bindung und ihre stufenweise Entwicklung, ein ausführlicherer Blick auf die drei Reifeprozesse, sowie die drei genannten Grundbedürfnisse des Kindes sind Themen der nächsten Folgen dieser Serie.
Die Autorin Maria Elisabeth Schmidt („Ich liebe dich so, wie ich bin! Eine Liebeserklärung an das Leben“) leitete zehn Jahre lang das katholische Kinderprojekt KidsNET. Als zertifizierte Neufeld-Kursleiterin und Dozentin an mehreren Akademien hält sie Erziehungsvorträge (www.herzensgipfel.de). Bekannt wurde sie durch die 48-teilige Erziehungsserie „Zur Reife erziehen“ (basierend auf dem großen Elternkurs von Prof. Neufeld) auf EWTN. Seit 2018 arbeitet sie als Leiterin Entwicklung für den Priesterausbildungshilfe e.V.
Auf der Familienseite der „Tagespost“ wird Frau Schmidt regelmäßig über die Bedeutung der Kind-Eltern-Bindung für die kindliche Reifeentwicklung schreiben.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.