Der Welt-Elterntag am 1. Juni begann in den öffentlich-rechtlichen Medien und auch in der Politik mit einem Irrtum: Man feierte den Weltkindertag, dessen Datum allerdings der 20. November ist. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dankte in einem Interview im ARD-Kinderkanal Kindern und Familien „anlässlich des internationalen Kindertages für ihren Einsatz“. Der Kindertag sei, so Steinmeier, gerade in diesen Zeiten besonders wichtig, weil Kinder auf vieles verzichten mussten.
An die Kinder gewandt sagte er: „Ihr konntet Freunde und Verwandte nicht besuchen, nicht zum Spielen raus ins Grüne, Kitas und Schulen waren geschlossen. Dass Ihr Euch trotz alledem so gut an die Regeln gehalten habt, finde ich klasse und dafür sage ich herzlichen Dank!“ Auch den Eltern, deren Tag eigentlich begangen wurde, dankte der Bundespräsident. Sie hätten den Kindern diese besondere Situation erklären, ihnen Ängste nehmen und sie trösten müssen. Daneben haben sie ihre normale Arbeit leisten müssen, das Essen auf den Tisch gebracht und die Hausarbeit betreut. Der internationale Kindertag solle daran erinnern, „was wir Kindern schuldig sind, was uns Kinder wert sind, nicht nur in Corona-Zeiten“.
Kinderrecht und Grundgesetz
Das Interview des Bundespräsidenten war eine Steilvorlage für seine Partei. Die SPD forderte erneut, Kinderrechte in das Grundgesetz einzufügen. Die Krise habe gezeigt, wie notwendig das sei – als ob in Sachen Familie die Eltern und nicht die Politik versagt hätten! Denn die Familie ist erst Mitte Mai in den Blickpunkt des Bundestages gerückt und erst in dieser Woche, da die Corona-Regeln und Vorschriften weitgehend gelockert werden, denkt man auch an die Familien und will sie mit 300 Euro pro Kind abspeisen – um den Konsum und damit den Einzelhandel zu fördern. Debattiert wird auch, ob dieser Familienbonus nicht besser in Kitas investiert werden soll. Mindestens das Zehnfache soll für Prämien beim Autokauf bereitgestellt werden, was wirklich zeigt, „was uns Kinder wert sind“. Wieder ist, wie bei der Kinderrechte-Debatte, ein altes Muster zu beobachten: Rot-rot-grün will so viel wie möglich staatlich regeln, die Union und die FDP ist für mehr Eigenverantwortung und Freiheit und will, wie der Sprecher der Union im Rechtsausschuss, Jan-Marco Luczak sagt, „das sorgsam austarierte Dreiecksverhältnis von Eltern, Kind und Staat bewahren“.
Lufthoheit über Kinderbetten
Wie dieses labile Dreieck schon heute staatlicherseits auf dem Rücken der Kinder gestört werden kann, belegen zahlreiche ungerechtfertigte Fälle von Kindesentzug durch das Jugendamt. Dass in manchen Jugendämtern auch Sachbearbeiter ihre Ideologien und Sympathien ausprobieren und der Willkür Tür und Tor offenstehen, zeigt ein aktuelles Beispiel. Der Vater eines Jungen hatte sich vor Jahren von der Mutter getrennt, weil er das gemeinsame Kind nicht wollte, die Mutter es aber nicht abtrieb. Trotz der Trennung legte die Mutter Wert darauf, dass der Junge Kontakt zu seinem Vater hält. Beim Vateraufenthalt Anfang Mai erzählte der Junge, dass er wegen der (Corona-) Schulaufgaben Streit mit der Mutter gehabt hätte, worauf der Vater die Mutter beim Jugendamt anzeigte und das Amt sofort ohne Prüfung des Falls das Kind in ein Heim steckte.
Die Mutter, die seit Jahren an den Familienangeboten der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung teilnimmt, durfte keinen Kontakt zu dem Kind aufnehmen und bekam auch keine Begründung, warum das Kind weggenommen wurde, sondern nur die Aussage, das Kind müsse drei Monate im Heim bleiben. Der Junge will zu seiner Mutter zurück, das Jugendamt verweigert sich und verschleppt die Anhörung eines Anwalts. Sieht so die Lufthoheit über den Kinderbetten aus, von der Olaf Scholz als Generalsekretär der SPD träumte?
Blick auf Wählerstimmen
Mit Kinderrechten in der Verfassung würde solche Willkür legitimiert. Die Fälle würden sich multiplizieren. Der Staat liebt nicht. Den Gegnern der Familie kommt es nicht auf die Institution, sondern auf die einzelnen Mitglieder der Familie an. Auf sie soll der Staat leichter Zugriff erhalten, vor allem auf die Kinder. Elterntag? Wozu? Es geht um Macht, nicht um liebevolle Fürsorge. Die Worte und Initiativen über die Familie zeigen erneut, dass die meisten Parteien und Politiker ein instrumentelles Verhältnis zu Familie und Kinder haben. Wie zur Bestätigung sagte zum Auftakt der Bundestagsdebatte Mitte Mai die Vorsitzende der Grünen, Annalena Baerbock an die Kinder in der Republik gewandt: „Liebe 13 Millionen Kinder und Jugendliche im Land! Wir haben Euch im Blick.“ Ihr Co-Vorsitzender, Robert Habeck, ließ fast zeitgleich erkennen, worauf der Blick genau gerichtet ist: auf die Stimmen der Jugendlichen. Er schlug vor, das Wahlalter auf 16 Jahre herabzusetzen, weil die Jugend sich in der Krise als reif und vernünftig gezeigt und es deshalb verdient habe, bei Wahlen mitzubestimmen.
Mehr Einfluss des Staates gewollt
Das Doppelmanöver ist durchsichtig. Zum einen sollen mit den Kinderrechten im Grundgesetz die Einflussmöglichkeiten des Staates, mithin der Parteien, zu Lasten der Eltern ausgeweitet werden. Zum anderen will man den Verlust bei den Umfragen (die Grünen lagen vor Corona bei 25 Prozent, jetzt sind es 18 Prozent) wettmachen und die frustrierten Fridays-for-Future-Demonstranten parteipolitisch einfangen. Mit Dank an Kinder und Eltern hat das vermutlich wenig zu tun. Im rot-rot-grünen Lager begreift man Familie eben nicht als die Institution, die vom Band der Liebe zusammengehalten wird und genau jene Voraussetzungen schafft, von denen der freiheitlich-demokratische Staat lebt. In der Familie wird der Sinn für Solidarität und Gemeinwohl, für selbstloses Handeln und Hilfsbereitschaft erzeugt und genährt. Ginge es den Grünen um die Institution Familie, dann müsste sie konsequenterweise das Wahlalter nicht nur auf 16 Jahre herabsetzen wollen, sondern auch für ein Familienwahlrecht eintreten. Aber da wäre die Verteilung der 13 Millionen Stimmen ungewiss.
Wahlrecht ab der Geburt
Abwegig ist die Idee eines Familienwahlrechts jedenfalls nicht und niemand kann sagen, sie sei neu oder unbekannt. Über mehrere Legislaturperioden hinweg hat der FDP-Politiker Hermann Otto Solms, der heutige Alterspräsident des Bundestages, versucht, diese Idee fraktionsübergreifend auf die Agenda der Politik zu heben. Er hatte dafür auch einige grüne Abgeordnete gewonnen und prominente Stimmen warben schon für diese Idee, zum Beispiel der frühere Bundespräsident Herzog, die ehemalige Familienministerin Renate Schmidt oder auch der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht, Paul Kirchhof. Die Frage eines Wahlrechts ab der Geburt wird seit Jahrzehnten diskutiert, ja die Geschichte des Wahlrechts ist eigentlich die Geschichte von der Ausdehnung dieses Rechts, zunächst vom Adel auf den Geldadel, dann auf bestimmte Gruppen und Schichten von Männern, dann auf Frauen, dann auf jüngere Erwachsene.
Dieser Verlauf folgt der Devise „one man, one vote“. Aber er ist nicht beendet, denn Kinder und Heranwachsende sind noch nicht erfasst. Die Devise ist auch keine „rechte“ Idee. Der Kreisauer Kreis um James Graf von Moltke dachte diese Option durch und sie gehört auch zum politischen Vermächtnis von Carl Goerdeler, der – zum Tode verurteilt – im September 1944 im Gefängnis mit Blick auf die künftige Neugestaltung Deutschlands schrieb: „Der Familie gebührt besonderer Schutz als der Zelle staatlichen Aufbaus. Das geschieht durch Zuweisung der Erziehungsaufsicht an sie… außerdem ist das Wahlrecht für Verheiratete mit mindestens drei Kindern bei dem Vater ein doppeltes.“
Lebensinteresen nachwachsender Generationen
Das Goerdeler-Modell wäre vermutlich nicht verfassungskonform. Aber es gibt andere Modelle, die, wie ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages schon vor einiger Zeit belegte, dem Grundgesetz nicht widersprechen. Außer der fraktionsübergreifenden Gruppe im Bundestag gab es auch eine Initiative des Deutschen Familienverbands (DJV) unter der Schirmherrschaft von Renate Schmidt. Im Rahmen dieser Initiative hat der renommierte Bevölkerungswissenschaftler und Nationalökonom Professor Herwig Birg sich auch dafür ausgesprochen, schon um der Geburtenbaisse entgegenzutreten. Denn dieses Wahlrecht für alle „würde die Politik dazu motivieren, sich mehr an den langfristigen Lebensinteressen der nachwachsenden Generationen zu orientieren und weniger am kurzfristigen Gewinn der Macht bei der jeweils nächsten Wahl“.
An dieser Nachhaltigkeit aber sind die Grünen offenbar nicht interessiert. Dabei wäre es für die Stabilität der Demokratie in Deutschland entscheidend, dass sich langfristig durch mehr Kinder die Versorgung der Eltern und aller anderen Älteren mit auskömmlichen Renten sowie mit Gesundheits- und Pflegeleistungen verbessern ließe. Der Idee von Habeck ist deshalb und auch aus einem anderen Grund eine breite Diskussion zu wünschen. Denn eine Diskussion über das Wahlrecht ab Geburt wäre ein Test für die Ehrlichkeit der Politik und die Ernsthaftigkeit ihrer familienpolitischen Danksagungen und Versprechen. Das Familienwahlrecht wäre auf jeden Fall familienfreundlicher und familiengerechter als der Spaltungsvorschlag des rot-rot-grünen Lagers nach der Einführung von Kinderrechten in die Verfassung. Hinter der neuen Freundlichkeit für Familien verbergen sich alte Muster.
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