Während Papst Johannes Paul II. als Papst der Familie, der Jugend und der Theologie des Leibes in die Geschichte einging, herrscht in Bezug auf den verstorbenen Papst Benedikt XVI. in manchen Köpfen noch das Bild eines Intellektuellen vor, dem lebensnahe Themen nicht recht lagen. Doch auch Benedikt XVI. hat den Gläubigen zahlreiche zentrale Gedanken zur menschlichen Liebe hinterlassen. Gerade in Zeiten, in denen in den deutschsprachigen Ländern die Sexualmoral auf dem Prüfstand zu stehen scheint, ist es lohnend, sich auf die Spuren der Theologie des Leibes im theologischen Werk Benedikts XVI. zu begeben. Benedikt und die Theologie des Leibes: Für eine Ausarbeitung dieser Spurensuche wäre eine Dissertation nötig – hier sollen daher lediglich einige Schlaglichter vorgestellt werden.
Theologie des Leibes bei Ratzinger (1968)
Der Begriff Theologie des Leibes erscheint vermutlich zum ersten Mal bei Joseph Ratzinger. In seinem 1968 veröffentlichten Kommentar über die Pastoralkonstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanums beschreibt der damalige Universitätsprofessor, was für ihn die generellen Grundzüge einer Theologie des Leibes sind: Eine „Theologie des Leibes … muss also gerade Theologie der Einheit des Menschen als Geist in Leib und Leib in Geist sein“. Diese Worte Ratzingers scheinen 55 Jahre später so relevant wie nie. Leibfeindlichkeit ist zutiefst dort gegeben, wo der Leib ohne Seele und die Seele ohne Leib gesehen wird. Genau hier ist die erste Verwobenheit der Theologie des Leibes von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. zu erkennen. Die Voraussetzung einer Theologie des Leibes, die dem Leib eine theologische Relevanz zuschreibt, ist die unverbrüchliche Einheit der geistigen Seele und des Leibes.
Der Mensch ist, wie es Gaudium et spes ausdrückt, „corpore et anima unus – in Leib und Seele einer“. Unser Leib ist daher nichts Akzidentielles, nichts Zufälliges, nichts Objektivierbares, sondern personale Realität. So spricht Johannes Paul II. in seinen Mittwochskatechesen tatsächlich vom Leib als dem ursprünglichsten Sakrament. Die zentrale Frage der Theologie des Leibes hat Johannes Paul II. in seinem apostolischen Schreiben Mulieris Dignitatem sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Es geht um die Frage: Was ist im Plan Gottes der Grund und die Bedeutung der Unterscheidung der Geschlechter? Da die Leiblichkeit integraler Bestandteil der menschlichen Person ist, hat auch die Geschlechtlichkeit, die den Leib als Ganzen bis hinein in jede einzelne Zelle bestimmt, personale Bedeutung. Um es ganz deutlich zu sagen: Johannes Paul II. spricht von der Theologie des Leibes sogar als einer Theologie der Geschlechtlichkeit oder einer Theologie der Männlichkeit und der Weiblichkeit. Dieser Gedanke ist grundgelegt in besagtem Kommentar Joseph Ratzingers, wo er von der Einheit des Menschen als Geist im Leib und Leib im Geist spricht.
Die Enzyklika Deus caritas est (2005)
In seiner Enzyklika Deus caritas est zeigt Benedikt XVI. das Konzept der Liebe in ihren verschiedenen Dimensionen. Diese Enzyklika ist gleichermaßen die Türangel, die die Theologie des Leibes von Johannes Paul II. mit dem Konzept der Theologie der Liebe von Benedikt XVI. verbindet. Weshalb? In seinen über fünf Jahre andauernden Katechesen betrachtet Johannes Paul II. die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan. In seiner Ansprache vom 6. Juni 1984 vergleicht er die Liebe im Hohenlied des Alten Bundes mit dem Hohenlied im ersten Korintherbrief 13. Er schreibt: „Es scheint …, dass die Liebe sich uns hier in zwei Perspektiven erschließt: so als würde das, worin der menschliche Eros seinen eigenen Horizont schließt, durch die Worte des Paulus in einem anderen Horizont der Liebe weitergeöffnet“, nämlich einer Sprache der Hingabe der Person. „Diese Liebe wird Agape genannt; die Agape führt den Eros zur Erfüllung, indem sie ihn läutert.“ Aber diese Fragen, so Johannes Paul II., wollen „wir nicht vermehren und keine vergleichende Analyse anstellen“.
Und exakt diesen Aspekt der vertieften Fragestellung und der vergleichenden Analyse der beiden Schrifttexte vom Hohenlied im Alten und im Neuen Testament füllt Benedikt XVI. in seiner Enzyklika Deus caritas est aus. De facto ergänzt er dieses fehlende Element in der Theologie des Leibes, indem er die drei unterschiedlichen Begriffe für Liebe Eros, Philia und Agape analysiert. Ausgehend vom Hohenlied zeigt Benedikt XVI. auf, dass der Eros seine Erfüllung erst findet, wenn er zur Agape herangereift ist. Er kommt zu dem Schluss, dass die Suche nach der noch unbestimmten Liebe ihre Erfüllung erst in der Liebe findet, die sich um den Anderen sorgt und das Gute für ihn will.
Meditation über die selbstlose Gabe (2006)
Den meisten Menschen ist ein wichtiger Text von Johannes Paul II. unbekannt. Dieser Text wurde von ihm am 08. Februar 1994 verfasst, jedoch nie veröffentlicht. Erst unter Benedikt XVI. erschien er 2006 in den Acta Apostolicae Sedis und blieb praktisch unbekannt, weil unter den Texten Benedikts XVI. niemand nach unbekannten Texten von Johannes Paul II. suchen würde. 2021 erschien der Text im Amor-Jahrbuch der Theologie des Leibes 2021 der Hochschule Heiligenkreuz zum ersten Mal auf Deutsch.
Diese Meditation verflicht in einer seltenen Dichte eine Reihe von Gedanken, die dem polnischen Papst am Herzen liegen und kann auch als eine Art Zusammenfassung der Theologie des Leibes gesehen werden, ohne dass der Begriff Theologie des Leibes darin verwendet wird. Ausgehend von dem Satz: „Gott hat dich mir geschenkt“, der den ganzen Text durchzieht, fasst die Meditation vor allem eines in den Blick: Ich nehme den Anderen nur dann wirklich als Gabe wahr, wenn ich in ihm Gott als den Geber erkenne und annehme, der mir die Person zum Geschenk macht. Gleichermaßen schenke auch ich – der ich selber eine Gabe Gottes bin – mich der anderen Person hin. Gabe und Hingabe, Geschenk und Annahme, das sind Begriffe und Intentionen, die die gesamte Theologie des Leibes, wie auch diese Meditation durchziehen. Ausgehend von dieser zentralen Wahrnehmung wird eine Anthropologie und Ethik der Gabe entworfen.
Kein Jahr nach seiner Wahl zum Nachfolger Petri scheint Benedikt XVI. auf diesen Text aufmerksam geworden zu sein. Unter Berücksichtigung der Dauer von bis zu achtzehn Monaten, bis ein Text in den Acta Apostolicae Sedis erscheint, kann man erkennen, dass die Enzyklika Deus caritas est recht zeitnah mit der Wahrnehmung dieses Textes durch Benedikt XVI. einhergeht. Die Betrachtung des Paulussatzes: „Wenn ich meine ganze Habe verschenkte und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts“ (Erster Korintherbrief 13,3) muss nach Benedikt XVI. die Magna Charta allen kirchlichen Dienens sein; in diesem Satz sind für den Papst alle Überlegungen über die Liebe zusammengefasst. Benedikt XVI. schließt daraus, dass die praktische Aktion, die äußerlichen Hilfeleistungen zu wenig sind, wenn in ihr nicht die Liebe zum Menschen selbst spürbar wird. Er führt diesen Gedanken in Deus caritas est zu dem Höhepunkt: „Ich muss dem anderen, damit die Gabe ihn nicht erniedrigt, nicht nur etwas von mir, sondern mich selbst geben.“
Exakt in diesem Punkt kommen beide Texte überein. Es geht um nichts weniger als um die selbstlose Gabe, die persönliche Hingabe an eine andere Person, sei es an Gott, sei es an einen Menschen.
Theologie des Leibes und Neuevangelisierung (2006)
Bei seiner Ansprache am 11. Mai 2006 anlässlich des 25jährigen Bestehens des Päpstlichen Instituts Johannes Paul II. betont Papst Benedikt XVI., dass die große Herausforderung der Neuevangelisierung, die Johannes Paul II. angeregt hat, durch eine wirklich tiefe Reflexion über die menschliche Liebe unterstützt werden muss. Er zeigt auf, dass gerade diese menschliche Liebe der bevorzugte Weg sei, den Gott gewählt hat, um sich dem Menschen zu offenbaren und dass er ihn zu einem Leben in der trinitarischen Gemeinschaft berufe. Benedikt XVI. stellt heraus, dass die Lebens- und Liebesgemeinschaft, die die Ehe ist, sich als wahres Gut für die Gesellschaft erweist. Dies gelte besonders in einer Zeit, die Gefahr läuft, dass die Ehe mit anderen Verbindungsformen verwechselt werde. „Nur der Fels der totalen und unwiderruflichen Liebe zwischen Mann und Frau ist imstande, die Grundlage für den Aufbau einer Gesellschaft zu sein, die für alle Menschen ein Zuhause wird.“
Auffallend an seiner Rede ist der scheinbar direkte Hinweis auf die Katechesen von Johannes Paul II. Diese Katechesen haben im Original den Titel: Die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan. Benedikt XVI. nimmt gleichsam den Titel der Katechesen für das Ganze der Katechesen und bringt sie mit seinem Anliegen der Neuevangelisierung in direkte Verbindung. Er sagt: „Die große Herausforderung der Neuevangelisierung, die Johannes Paul II. mit solchem Schwung angeregt hat, muss durch eine wirklich tiefe Reflexion über die menschliche Liebe [Hier könnte man ,im göttlichen Heilsplan‘ ergänzen. Anm. d. Verfassers] unterstützt werden, da gerade diese Liebe ein bevorzugter Weg ist, den Gott gewählt hat, um sich dem Menschen zu offenbaren, und er ihn in dieser Liebe zu einem Leben in der trinitarischen Gemeinschaft beruft.“ Durch diesen direkten Bezug auf die Katechesen von Johannes Paul II. unterstreicht Benedikt XVI. die Relevanz der Theologie des Leibes für die Neuevangelisierung: Sie ist deren unterstützendes und wesentliches Element.
Die enge Vernetzung seiner Theologie der Liebe mit der Theologie des Leibes bringt Benedikt XVI. selbst am 13. Mai 2011 beim 30. Jubiläum des genannten Instituts zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Die Verbindung der Theologie des Leibes mit der Theologie der Liebe, um die Einheit des Weges des Menschen zu finden: das ist das Thema, das ich euch ans Herz legen möchte. Die Familie ist der Ort, wo sich die Theologie des Leibes und die Theologie der Liebe miteinander verflechten.“
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