Stille Schulhöfe, leere Sporthallen, vereinsamte Jugendtreffs: Mittlerweile hat der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach eingestanden, dass die Schulschließungen in der Coronazeit ein Fehler waren. Trotzdem mangelt es weiterhin an offiziellen Entschuldigungen bei der jungen Generation und einer ehrlichen Integration der Stimmen der „Coronakinder“. Verbindliche Festlegungen, die eine Wiederholung des für Kinder schädlichen Maßnahmendramas künftig unmöglich machen, sind bisher nicht in Sicht. Grundlage dafür wären eine Evaluation der Coronamaßnahmen und eine politische Aufarbeitung des Ausnahmezustandes.
Lange Monate hindurch wurde das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Bildung durch die Coronamaßnahmen faktisch ausgesetzt, ihre entwicklungsrelevanten sozialen Kontakte, Sport, Freizeitaktivitäten und außerschulischen Hilfsangebote eingeschränkt oder gar verboten. Social Distancing, das dauerhafte Tragen von Masken und häufige Coronatests nahmen Kindern und Jugendlichen buchstäblich die Luft zum Atmen. Die Folgen für die Biographien der Kinder blieben nicht aus und schlugen sich in psychischen Störungen, Spielsucht, Schulversagen und Bildungsverlust sowie mangelnder Lebensfreude und Zukunftsorientierung nieder. Etliche Untersuchungen – zuletzt eine Studie der Ludwig-Maximilians-Universität München – belegen dies mittlerweile.
Virus der Rücksichtslosigkeit
Doch bereits ab 2020 warnten verschiedene Experten vor den Folgen der Lockdowns für Kinder und Jugendliche, zum Beispiel in einer öffentlichen Sitzung der Kinderkommission des Deutschen Bundestages am 9. September 2020. Die negativen Folgen der Coronapolitik für die Kinder waren durchaus absehbar, die Politik ignorierte jedoch entsprechende Warnungen und Hinweise.
Michael Klundt, seit 2010 Professor für Kinderpolitik im Studiengang Angewandte Kindheitswissenschaften der Hochschule Magdeburg-Stendal, weist auf die deutlichen Unterschiede bei den Schulschließungen in den europäischen Ländern hin: „In Schweden waren die Schulen circa 30 Tage, in der Schweiz um die 40 Tage, in Frankreich etwa 50 Tage und in Deutschland über 180 Tage geschlossen. Da hat sich wohl in Deutschland auch ein Virus der Rücksichtslosigkeit breit gemacht.“ Klundt betont: „Seit Beginn der Corona-Krise in Deutschland wurden elementare Schutz-, Fürsorge- und Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen verletzt. Und verschiedene – auch unterlassene – Regierungsmaßnahmen haben überdies zur Verstärkung von Kinderarmut beigetragen. Selbst wenn man das Narrativ der Regierung geteilt hat, hätte man anders mit den Kindern und Jugendlichen umgehen müssen.“ Es läge eine politisch zu verantwortende Kindeswohlgefährdung im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention und des Sozialgesetzbuches VIII vor, so Klundt.
Kinder waren kaum gefährdet
Spätestens seit 2021 ist offensichtlich, dass Corona Kinder kaum gefährdete und diese auch keine „Superspreader“ waren. „In ihrer COVID-19-Impfempfehlung vom 19. August 2021 berichtet die Ständige Impfkommission, Stiko, im Epidemiologischen Bulletin des Robert Koch Instituts, dass es seit Beginn der Pandemie insgesamt unter den etwa 14 Millionen Minderjährigen in Deutschland 14 Tote im Zusammenhang mit Corona gegeben habe. Davon waren einige schwer vorerkrankt und zum Teil bereits auf einer Palliativstation“, gibt Prof. Michael Klundt zu bedenken. „Laut der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) und der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) sind diese Zahlen bei aller Schrecklichkeit des Einzelschicksals dennoch ins Verhältnis zu setzen. So verstarben nur in der Saison 2018/19 neun Kinder an der Influenza, 55 Kinder wurden 2019 durch Verkehrsunfälle getötet und 25 Kinder ertranken. Nach spätestens einem Jahr Corona hätten diese Zahlen politisch, wissenschaftlich und medial öffentlichkeitswirksam kommuniziert werden müssen, um der weit verbreiteten Angstmache mit ein wenig Rationalität beizukommen – gerade innerhalb der Familien.“
Kritischer Blick auf die „Kollateralschäden“
„Doch“, so Klundt weiter, „es hat sich mit den Coronamaßnahmen ein Trend ins Autoritäre, ins Ausgrenzen und Stigmatisieren bemerkbar gemacht, der von der Sache her nicht zu begründen war und ist.“ Der Spiegel-Journalist Alexander Neubacher schrieb im März 2023 selbstreflexiv über die teils rechtswidrigen und oft unverhältnismäßigen Coronamaßnahmen: „Die autoritäre Versuchung ist groß. Ich entdecke den Diktator in mir.“
Der deutschlandweit bekannte Jurist, Kriminologe und Forscher Christan Pfeiffer sieht ebenfalls kritisch auf die sogenannten „Kollateralschäden“: „Die innerfamiliäre Gewalt ist während der Lockdowns gestiegen. Die Fachleute gehen davon aus, dass das Eingesperrtsein in engen Wohnungen und der Stress durch die Einschränkungen dazu beigetragen haben.“ Die Opfer von Gewalt waren vor allem Frauen und Kinder. Im Jahr 2021 lag die Anzahl getöteter Frauen mit 311 zu 310 zum ersten Mal über der Anzahl der getöteten Männer – eine durch die die Pandemie mitbedingte Ausnahme. Auch die Zunahme von Kindstötungen in den Coronajahren führt Pfeiffer auf den Maßnahmendruck zurück.
Präsenzunterricht ist nicht zu ersetzen
Stolz wurden während der Lockdowns digitalisierte Ausweichprogramme der Schulen als Ersatzlösung vorgestellt. Engagierten Pädagogen war sofort klar, dass diese den Unterricht in der Klasse keinesfalls ersetzen konnten und besonders sozial benachteiligte Kinder schon ausstattungsmäßig hier gar nicht mithalten konnten. Außerdem befeuerte der digitale Unterricht den Hang der Jungen zum Absacken vor ihren Rechnern. Schon vor Corona hatte sich gezeigt, dass immer mehr Jungen in ihren Schulleistungen hinter den Mädchen zurückblieben. Dazu Pfeiffer: „Der Geschlechterunterschied in den Schulleistungen ist vollständig durch das unterschiedliche Computerspielverhalten erklärbar. Sowohl eine längere Computerspieldauer als auch der Konsum gewalthaltiger Inhalte verschlechtern die Schulnoten.“ Längeres Computerspielen gehe mit dem häufigeren Besuch niedriger und dem selteneren Besuch hoher Schulformen einher.
Nina Großmann, Schulpsychologin und Vorsitzende des Landesverbandes Schulpsychologie Baden-Württemberg, fasst die Folgen des Coronamaßnahmen für ihr Bundesland folgendermaßen zusammen: „Die Probleme beginnen jetzt schon in der ersten Klasse der Grundschule. Wir gehen davon aus, dass diese Kinder während der Coronazeit meist zuhause waren. Durch den eklatanten Fachkräftemangel in den Kindergärten werden entscheidende Sozialisationsschritte nicht mehr mit den Kindern gegangen. Diese wissen gar nicht, wie Schule funktioniert und fragen sich: Wieso steht diese Frau da vorne und sagt mir, was ich machen soll?“
Bildungsverlust durch Schulschließungen
Lernstörungen seien ebenfalls auf dem Vormarsch, wobei diese häufig auf Bildungsverlust durch die Schulschließungen beruhten. In den höheren Klassen herrsche Motivationslosigkeit. Ein „No-Future-Virus“ habe sich breit gemacht. Wofür das alles? Dann doch lieber gemütlich chillen. Hierzu Großmann: „So macht sich die depressive Reaktion der Jugendlichen – besonders bei den Mädchen – bemerkbar.“ Für suizidale und selbstverletzende Jugendliche gebe es lange Wartezeiten in den Kliniken. Schulabsentismus sei eine weitere Herausforderung. Kinder und Jugendliche könnten bis heute nicht zur Schule gehen, weil sie – verstört durch die Maßnahmen – unter Ängsten und körperlichen Symptomen litten, so die Psychologin.
Christian Dohna-Schwake, Leitender Oberarzt in der Klinik für Kinderheilkunde in Essen, hatte im Frühjahr 2021 nach dem zweiten Lockdown einen Anstieg der Suizidfälle auf der Kinderintensivstation festgestellt. 27 weitere Kinderintensivstationen hatten ähnliche Erfahrungen gemacht. Die Ergebnisse wurden in einer Studie zusammengefasst. Dazu Dohna-Schwake: „Diese Studie zeigt einen starken Anstieg der schweren Suizidversuche unter Jugendlichen im Verlauf der Pandemie in Deutschland. Es sind weitere Forschungsarbeiten erforderlich, um den Zusammenhang zwischen Pandemiepräventionsmaßnahmen und Suizidgedanken zu verstehen.“ Zwar habe sich die Lage jetzt etwas beruhigt, aber es gebe weiterhin vielfältige Probleme sowie psychosomatische Beschwerden. „Man muss sich den Problemen stellen, die Coronazeit aufarbeiten und auch Geld in die Hand nehmen. Ein Modellvorhaben mit Mental Coaches, wie es im Rahmen des Bundesprogramms „Zukunftspaket für Bewegung, Kultur und Gesundheit“ an belasteten Schulen geplant ist, wird sicher nicht ausreichen.“
Einsatz für das Kindeswohl
Michael Klundt setzte sich bereits während des Ausnahmezustandes für das Kindeswohl ein: „Die bundesgesetzlichen Kinderrechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung sollten im Sinne einer Politik für soziale Gerechtigkeit unter allen Umständen verlässlich umgesetzt werden. Eine mangelnde Aufarbeitung der Coronamaßnahmen nimmt uns die Möglichkeit, aus den Fehlern, die gemacht wurden, zu lernen.“ Durch das zusätzliche Krisengeschehen werde das Los der Kinder und Jugendlichen nicht einfacher. Das Steuergeld komme außerdem zum geringsten Teil den Kindern zugute. Hingegen würden so mal eben hundert Milliarden Euro zusätzlich für Rüstung eingeplant, während laut Finanzminister zwölf Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung nicht zur Verfügung stünden, bilanziert Klundt enttäuscht.
Christine Born ist Journalistin und Pädagogin.
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