Stell dir mal einen richtig alten Mann vor. Er hat, wie es sich gehört, einen langen weißen Bart. Außerdem trägt er ein weites Gewand aus Leinen. Wenn er geht, stützt er sich auf einen Stab, der aus einem Stock geschnitzt ist. Der Name des alten Mannes ist Simeon. Vor einer ganz langen Zeit, vor mehr als 2000 Jahren, lebte Simeon in Jerusalem. Simeon war ein frommer Jude. Schon als er ein kleiner Junge war, ging sein Vater täglich mit ihm in den Tempel. Dort beteten sie gemeinsam zu Gott.
An besonderen Tagen nahmen sie auch ein Opfer mit zum Tempel ?– Brot oder etwas Fleisch: Das gaben sie den Priestern, die es für Gott zubereiteten. Tag für Tag geht Simeon auch heute noch in den Tempel und redet dort mit Gott. Mittlerweile tun ihm seine Beine sehr weh, wenn er langsam und mit vielen Pausen die Stufen zum Tempel hinaufsteigt. Aber Simeon hört nicht auf, täglich zum Tempel zu gehen. Denn Simeon wartet dort auf etwas. So ganz genau könnte er selbst nicht sagen, worauf er wartet. Nur eine Sache weiß Simeon sicher: Erst, wenn sein Warten erfüllt ist, wird er sterben können. Dieses Wissen hat Simeon nie jemandem erzählt. Es ist sein Geheimnis, das er wie einen großen Schatz hütet.
Gott ruft Simeon
Heute ist Simeon schon sehr früh wach. Er möchte noch auf den Markt, bevor er am Nachmittag wieder in den Tempel geht, um dort zu beten. Da sagt ihm eine innere Stimme: Simeon, geh sofort in den Tempel, heute noch soll dein Warten vorbei sein. Da steht er so schnell auf, wie seine alten Glieder erlauben, zieht sich eilends an, nimmt seinen Stock und verlässt das Haus. Die Gassen sind noch ganz leer, Jerusalem erwacht erst langsam aus seinem Schlaf. Doch Simeon ist ganz auf das bevorstehende Ereignis ausgerichtet. Was wird er dort im Tempel sehen? Wem wird er begegnen? Trotz der frühen Morgenstunde sind schon einige Menschen im Tempel. Manche gehen auf und ab und sprechen dabei Psalmen.
Andere kaufen bei den Händlern Dinge für ein Opfer. Da hinten ist eine Gruppe junger Männer um einen Schriftgelehrten versammelt, der eine Stelle aus der Heiligen Schrift erklärt. Simeon sieht sich um. Auf was soll er achten? Woran wird er es erkennen? Da fällt ihm mit einem Mal ein Paar besonders auf. Die Frau ist noch sehr jung und ungewöhnlich schön. Ihr Mann scheint etwas älter zu sein als sie. Er hat zwei junge Tauben in der Hand. Augenscheinlich wollen sie den Priestern die Tauben für das Opfer bringen. Fast ganz in ihrem Mantel verborgen, trägt die junge Frau ein Baby. Es mag kaum mehr als 40 Tage alt sein. Etwas interessiert Simeon an der jungen Familie. Er folgt ihnen ein wenig. Da bleibt der Vater des Kindes stehen. Er hat Simeon bemerkt.
Ein besonderes Kind
„Guter Mann“, sagt Simeon zu Josef, „wer seid ihr?“ „Ich bin Josef und das ist meine Frau, Maria,“ antwortete Josef. „Wir sind von Nazareth hierhergekommen, da wir unseren Sohn, Jesus, Gott weihen wollen.“ Simeon hatte keine eigenen Kinder. Aber er kannte diesen Brauch frommer Leute, ihren ersten Sohn Gott als besondere Gabe anzuvertrauen. Eine unbestimmte Ahnung ergreift Simeon: Irgendetwas Besonderes musste an diesem Kind sein. Noch ehe er so ganz begreifen kann, was er da tut, bittet er die junge Frau um das Kind. „Darf ich das Baby halten?“
Maria wundert sich ein wenig, gibt dann aber dem alten Mann, der gut und gerecht aussieht, ihr Kind. Er nimmt es in seine Arme und als er das Kind anblickt, versteht er plötzlich: Dieses Baby ist der Messias, auf den sein Volk gewartet hat. Er, Simeon, durfte für sein ganzes Volk warten und hier ist er: Der König, der sein Volk mit Gott versöhnen wird und unter dessen Herrschaft endlich Friede herrschen wird. Aus Simeons Innerem steigt eine unbeschreibliche Freude auf und sein Mund beginnt wie von selbst, Gott zu preisen:
„Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden.
Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast,
ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Israel.“
Als Simeon an diesem Tag aus dem Tempel wieder auf den Vorplatz tritt, steht die Sonne schon hoch am Himmel. Simeon weiß, dass sein Leben nun an seinem Ziel angekommen ist. Er hat den gesehen, der Israel erlösen wird. Mehr braucht er nicht. Langsam geht er durch die Gassen Jerusalems nach Hause.
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