Herr Professor Kampowski, in der Kommunikation über die Natürliche Empfängnisregelung verwenden wir gern den Begriff „selbstbestimmt“, was jedoch bei manchen Menschen falsch ankommt im Sinne eines „feministischen Kampfbegriffs“. Wie würden Sie Selbstbestimmung definieren?
Selbstbestimmung ist ein Wort, das man in der autonomen Moral finden kann. Dort bedeutet es, dass der Mensch sich selbst das Gesetz gibt, sich selbst die Ziele steckt: Man ist frei und selbstbestimmt, wenn man nach seinen eigenen Kriterien handelt. Deswegen stößt dieses Wort in einigen Kreisen auf. Doch Karol Wojtya, der spätere heilige Johannes Paul II., spricht durchaus von Selbstbestimmung: Er nennt den Willen sogar die Macht der Selbstbestimmung. Das hat bei ihm als Philosoph eine positive Bedeutung. Er unterscheidet zwischen der Erfahrung des „Ich handle“ und des „Etwas geschieht in mir“. Im Handeln bestimme ich mich selbst. Es gibt die Gefahr der Fremdbestimmung durch spontane Neigungen, die uns manchmal zu Dingen verleiten, die wir gar nicht wollen. An sich sind sie nicht schlecht, sie bedürfen jedoch der Interpretation. Wir sind eben keine Tiere. Wenn der Mensch Hunger hat und etwas zu essen vor sich hat, heißt das noch nicht, dass er sofort anfängt zu essen. Er mag warten, bis die anderen sich hingesetzt haben, bis man vielleicht ein Gebet gesprochen hat. Oder er mag fasten. Ein Tier, das Hunger und etwas zu essen hat, das frisst; deswegen benutzt man im Deutschen auch ein anderes Wort für die Nahrungsaufnahme von Tieren und Menschen.
Das ist ja auch ein Ausdruck der Freiheit, die uns geschenkt wird …
Genau, das ist die Freiheit der Person, die sich mit sich selbst in Beziehung setzen kann, wie Robert Spaemann das ausdrückt. Wer Person ist, muss sich nicht sofort kratzen, nur weil es irgendwo juckt. Selbstbestimmung könnte man eben auch als tugendhafte Selbstbeherrschung bezeichnen: dass unsere spontanen Neigungen in die Ordnung der Vernunft – nämlich in das, was wir wirklich im Grunde wollen – integriert werden, dass es also ein vernünftiges Begehren gibt. Wenn das Gegenteil der Fall ist, wenn wir nicht selbstbestimmt handeln, dann werden wir immer unfreier. Die tugendhafte Selbstbeherrschung ist eine Bedingung der Freiheit – fast könnte man sagen, sie ist Freiheit. Um ein Beispiel zu nennen: die keusche Person ist wirklich frei – frei zu lieben. Sie unterdrückt den Sexualtrieb nicht, sondern ordnet ihn in die Ordnung der Vernunft ein, was zugleich die Ordnung der Liebe ist: dass das sexuelle Begehren im Dienst der Liebe steht und auf die Würde und die Schönheit der anderen Person ausgerichtet ist.
Das zeigt: Es gibt auch Keuschheit in der Ehe. Heutzutage wird Keuschheit aber oft gleichgesetzt mit Enthaltsamkeit …
Genau, aber Letzteres ist falsch. Keuschheit bedeutet, dass das sexuelle Begehren integriert ist in das Leben, in den Lebensstand der Person. Keuschheit für eine verheiratete Person bedeutet etwas anderes als für einen Unverheirateten, der noch heiraten möchte, und wieder etwas anderes für eine gottgeweihte Person. Für die beiden Letzteren bedeutet Keuschheit sexuelle Enthaltsamkeit, aber der Unterschied ist klar: Die gottgeweihte Person muss diese Enthaltsamkeit als ihre Berufung vom Herrn kultivieren – auch in den Gedanken, in dem, was sie sich anschaut, in den Büchern, die sie liest, in allem – und ihre leibliche Sehnsucht ganz auf den Herrn, auf den göttlichen Bräutigam, richten. Die unverheiratete Person, die heiraten möchte, wird sich eben nach einem Ehepartner umschauen und daher auch offen sein für die Anziehung des anderen Geschlechts. Aber auch für die verheiratete Person bedeutet Keuschheit die Bereitschaft, sich zu enthalten, sollte dies notwendig sein. Wenn der Ehepartner etwa verreist ist, muss die verheiratete Person sich enthalten, sonst hat sie nicht verstanden, was es bedeutet, verheiratet zu sein. Zu heiraten bedeutet, eine exklusive Beziehung einzugehen und schließt daher grundsätzlich die Disposition zur Enthaltsamkeit ein.
Sie haben sich intensiv mit der Theologie des Leibes von Johannes Paul II. befasst. Welche Verbindung sehen Sie zwischen der Natürlichen Empfängnisregelung und der Theologie des Leibes?
Sie ist sehr eng. Johannes Paul II. hat am Ende seiner Katechesen über die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan, also in seiner „Theologie des Leibes“, gesagt, dass es ihm darum ginge, „Humanae Vitae“ zu erklären. Das ist die Enzyklika des heiligen Papstes Paul VI., die einen sittlichen Unterschied sieht zwischen der Empfängnisverhütung – von der sie lehrt, dass sie ein in sich schlechter Akt ist – und der periodischen Enthaltsamkeit, die sie für legitim erklärt, und die eben tugendhafte Selbstbeherrschung bedeutet. Dieser Unterschied ist wesentlich und verweist auf ein grundlegend anderes Menschenverständnis. Deshalb basiert die Rede von der „natürlichen Verhütung“ auf einem fundamentalen Missverständnis. Der Unterschied zwischen Verhütung und Natürlicher Empfängnisregelung besteht nicht zwischen künstlich und natürlich, sondern zwischen künstlich und tugendhaft. Es geht darum, unseren eigenen Leib nicht als Objekt zu verstehen, sondern als Handlungssubjekt: dass unser Leib Handlungsträger ist, dass wir unseren Leib nicht manipulieren, nur, um unser Verhalten nicht ändern zu müssen. Wenn ein Ehepaar aus Verantwortung für die Familie zu dem Schluss kommt, im Moment kein weiteres Kind haben zu können, modifizieren sie ihre Handlungsweise, indem sie sich periodisch enthalten. Die Eheleute wahren damit die Würde ihrer Person, da sie sich nicht durch technische Mittel manipulieren, sondern tugendhaft den Leib als Teil ihrer Person betrachten.
Die Interviewerin ist Referentin für Natürliche Empfängnisregelung und Theologie des Leibes sowie im Ehevorbereitungsprojekt „Fit für Ehe“ tätig.
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