Vielfalt“ ist das Schlüsselwort im Rahmenkonzept für Sexuelle Bildung an den katholischen Schulen im Erzbistum Hamburg unter der Überschrift „Männlich, weiblich, divers“, das Anfang Juni 2025 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Über 30-mal findet sich der Hinweis auf die Vielfalt sexueller Orientierungen und Identitäten im Dokument und programmatisch heißt es auf S. 35: „Wir fördern ein Bewusstsein für die Vielfalt von geschlechtlichen Identitäten und sexuellen Orientierungen und den Respekt vor unterschiedlichen Lebensweisen. Wir akzeptieren Vielfalt und erkennen sie als Chance und Bereicherung an, damit sich alle Schüler_innen mit ihren individuellen Beziehungen und Identitäten an katholischen Schulen und in der Kirche aufgehoben fühlen.“
Unstrittig ist, dass sexuelle Minderheiten und deren unterschiedliche Beziehungsformen in ihrer Eigenheit zu respektieren sind und sich niemand auf die kirchliche Lehre berufen kann, der etwa homosexuellen oder transidenten Mitmenschen mit Herabwürdigungen, womöglich sogar mit Anfeindungen begegnet. Eine christlich fundierte Sexualpädagogik muss sich deshalb – darin ist dem Hamburger Rahmenkonzept absolut zuzustimmen – entschieden gegen Diskriminierung und Ausgrenzung von Personen hinsichtlich ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität richten sowie eine Kultur des Respekts, der Achtsamkeit und der sozialen Akzeptanz fördern. Auch die Enttabuisierung von „heißen Eisen“ und überhaupt die Anerkennung von Sexualität als positivem und wertvollem Teil des menschlichen Lebens ist von entscheidender Bedeutung. Soweit dürfte bei Befürwortern und Kritikern einer neuen Sexualpädagogik der Vielfalt im kirchlichen Kontext kein Dissens bestehen.
Neue Beziehungsformen als gültige Alternative?
Schwieriger werden die Fragen allerdings, wenn die Ebene des Prinzipiellen oder Appellativen verlassen werden muss und es um Konkretionen und Konsequenzen geht. Das Hamburger Konzept für Sexuelle Bildung an den katholischen Schulen scheint sich diesen Schwierigkeiten nicht recht stellen zu wollen. Denn es betont nachdrücklich, dass man eben nur den „Rahmen“ vorgebe und die eigentliche inhaltliche Umsetzung den Schulleitungen, Lehrkräften und pädagogischen Mitarbeitern anvertraue (vgl. S. 9); zudem lege man keine neue Theologie vor und versichere sich notwendiger kirchlicher Vorgaben (vgl. S. 8). Hier kommen dann doch – und vielleicht mag es da manchem Mitglied in den Schulleitungen oder Lehrkörpern der katholischen Schulen ähnlich gehen – gewisse Zweifel und ein Bedürfnis nach Rückfragen auf.
Eine erste Anfrage bezieht sich auf die Reichweite des beziehungsethischen Ansatzes in der katholischen Sexualethik. Das Hamburger Rahmenkonzept für Sexuelle Bildung spricht sich mit Nachdruck für eine „gendergerechte Beziehungsethik“ aus, die vermittelt, dass „es bei der Beurteilung von Sexualität nicht um die Form, sondern um die ethische Qualität der Beziehung geht“ (S. 24). So gesehen sind sämtliche sexuelle Handlungen bejahenswürdig, solange sie nur den recht allgemein gehaltenen Prinzipien einer gelungenen Beziehungsethik (Unversehrtheit, Einvernehmlichkeit, Gegenseitigkeit, Gleichheit, Verbindlichkeit, Fruchtbarkeit in einem weiten Sinn, soziale Gerechtigkeit; vgl. S. 23) genügen. Das kirchliche Leitbild der heterosexuellen Ehe als verbindliche Lebensform der Liebe und Sexualität wird auf diese Weise merklich depotenziert, während neue oder unkonventionelle Beziehungsformen (wie „Ehe für alle“, Poly-Beziehungsformen, „Freundschaft-Plus“, „Offene Ehe“) als Alternativen zur Geltung kommen. Tatsächlich findet sich im Hamburger Rahmenkonzept das Statement: „Verschiedene Lebensentwürfe werden gleichwertig und kultursensibel dargestellt.“ (S. 46) Ist aber eine derart neutral-relativistische Position mit dem Werteprofil einer Bildungseinrichtung in katholischer Trägerschaft vereinbar? Gilt es bereits als ein Ausdruck von Intoleranz, Homophobie und fehlendem Respekt gegenüber unterschiedlichen Lebensweisen, wenn in der kirchlichen Verkündigung und im Religionsunterricht die maßgebliche Orientierungsfunktion, welche der heterosexuellen Ehe und dem herkömmlichen Familienmodell aus theologisch-ethischer Perspektive zukommt, klar und eindeutig kommuniziert wird? Für die womöglich schnell verlautende, beschwichtigende Antwort „Natürlich nicht!“ seitens beherzter Befürworter einer Sexualpädagogik der Vielfalt möchte man hier gerne um eine eingehendere Begründung bitten.
Eine zweite Anfrage zielt in die Mitte des christlichen Bekenntnisses und biblischer Theologie. Angesichts einer sexuellen Vielfalt und pluraler Lebensweisen, die sich nicht erst in moderner Zeit, sondern durchaus vergleichbar auch schon für das Römische Reich des ersten Jahrhunderts nachweisen lassen, treten die Schriften des Neuen Testamentes exklusiv für die monogame heterosexuelle Ehe, die sich daraus erweiternde Familienstruktur und für die enthaltsame Ehelosigkeit ein. Matthias Becker, evangelischer Neutestamentler an der Universität Heidelberg, hat in der lesenswerten Publikation „Ehe, Familie und Agamie“ erst kürzlich noch einmal vor Augen gestellt, dass vom biblischen Befund her die Aussagen über Ehe, Familie und Ehelosigkeit „überwiegend nicht mithilfe gesellschaftlicher Konventionen begründet werden, sondern unter Rekurs auf den Gott Israels als Weltschöpfer und Vater Jesu Christi, auf Jesus Christus als Kyrios, Gottessohn und autoritativen Lehrer der Christgläubigen sowie auf die Schriften Israels als Dokumente des Redens und des Willens Gottes“. Mit anderen Worten: Christliche Positionierungen hinsichtlich sexueller Vielfalt und einer Pluralität damit verbundener Lebensweisen berühren auch die Gotteslehre und Christologie, nicht nur die Ethik. Lässt sich so gesehen – wie im Hamburger Rahmenkonzept – wirklich einfach behaupten, man lege „keine neue Theologie“ (S. 8) vor?
Welche Geltung kommt den theozentrischen und christusorientierten Begründungen für die exklusive Stellung von monogamer heterosexueller Ehe im Plädoyer für eine Sexualpädagogik der Vielfalt überhaupt noch zu? Wie ist der Versuchung zu entgehen, dass man Gott zum „obersten Gutmütigen“ – wie Franz Kamphaus es formulierte – dekonstruiert, der umstandslos zu allen menschlichen Dispositionen und Vorstellungen passt?
Gott als „oberster Gutmütiger“
Eine dritte Anfrage betrifft schließlich die im Hamburger Rahmenkonzept für Sexuelle Bildung thematisierte „inhaltsbezogene Sachkompetenz“ (S. 26). Zu Recht betonen die Verantwortlichen, dass ein fundiertes und differenziertes Wissen eine entscheidende Komponente für „ein souveränes und angstfreies Leben“ (S. 26) darstellt. Aus theologisch-ethischer Perspektive ist es insofern unabdingbar, humanwissenschaftliche Befunde, Theoriekonzepte, nicht zuletzt aber auch Kontroversen innerhalb der Humanwissenschaften aufmerksam wahr- und ernst zu nehmen. Das ist ein hoher Anspruch, der jedoch nur bedingt eingelöst wird, wenn etwa die Geschlechtervielfalt pauschal bejaht wird. Denn allenfalls auf der Ebene des Gender-Selbstverständnisses ist es möglich, von einer Konstruktion des Geschlechts zu sprechen. Die Binarität der Geschlechter ist damit aber mitnichten aus der Welt. Jeder Mensch hat seinen Ursprung aus der heteronormativen Verschmelzung weiblicher und männlicher Keimzellen. Alles, was mit der fortpflanzungsbezogenen Sinndimension von Sexualität zu tun hat, aktiviert beständig die Binarität und Polarität von Mann und Frau. Das ist eine biologische Tatsache und kein willkürliches soziales Konstrukt. Zudem sollte sich der moralische Eifer eines betont transaffirmativen Ansatzes eher in die Richtung einer Ethik der Umsicht und Achtsamkeit wandeln, welche sich sachlich-nüchtern den folgenden Fragen stellt: Muss es nicht zu denken geben, wenn signifikant häufiger Mädchen als Jungen eine Genderdysphorie wahrnehmen, eine exponentielle Zunahme an Transgenderidentitäten bei Kindern und Jugendlichen beobachtet wird und von medizinischer Seite inzwischen mehr und mehr die gesundheitlichen Risiken von Pubertätsblockern, Hormongaben und operativen Maßnahmen einer Geschlechtstransition problematisiert werden? Was sind die tieferen Ursachen für das Empfinden von immer mehr Menschen, sich auf einmal mit dem eigenen körperlichen Geschlecht nicht mehr kongruent zu fühlen? Steht die psychische Selbstwahrnehmung nicht stets in Beziehung zur biologischen Konstitution und zur Welt, die das Individuum umgibt? Und führt diese Trennung nicht immer wieder auch zu Widersprüchen oder Aporien – wenn es etwa um eine geschlechtsspezifische Gesundheitsversorgung, Regelungen im Sport und im Strafvollzug oder um die Frage geht, warum man nur das Geschlecht, aber nicht auch das Alter (mit entsprechenden zivilrechtlichen Konsequenzen) gemäß der eigenen Selbstwahrnehmung bestimmen darf?
Viele Fragen lassen die Befürworter einer neuen Sexualpädagogik der Vielfalt im kirchlichen Kontext außer Acht und nach wie vor unbeantwortet. Im Juli dieses Jahres fand ein Papier zur Anerkennung der Vielfalt sexueller Identitäten in der Schule nicht die Zustimmung des Ständigen Rates der deutschen Bischofskonferenz. Dem Vernehmen nach soll das Dokument weitgehend der Linie des Hamburger Rahmenkonzeptes für Sexuelle Bildung an katholischen Schulen entsprechen und demnächst wohl als ein Papier der Schulkommission der Bischofskonferenz veröffentlicht werden. Die Verantwortlichen in der Schulkommission und darüber hinaus täten gut daran, sich den im Raum stehenden kritischen Rückfragen ernsthaft zu stellen, anstatt sie als bloße Bedenkenträgerei „Ewig-Gestriger“ von sich zu weisen.
Der Autor ist Professor für Moraltheologie an der Theologischen Fakultät Trier.
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