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Die Freiheit, Mann zu sein

Wenn nur ein Geschlecht gewinnt, verlieren beide, findet der amerikanische Bestsellerautor Warren Farrell. Im ersten Teil eines zweiteiligen „Tagespost“-Interviews spricht er über die Schwierigkeiten des Mannseins heute und die Rolle des Vaters in der Familie.
Väter haben eine einzigartige Rolle in der Erziehung, meint Warren Farrell: Sie machen Mut und lehren den Umgang mit Risiken.
Foto: IMAGO/Kimberli Fredericks (www.imago-images.de) | Väter haben eine einzigartige Rolle in der Erziehung, meint Warren Farrell: Sie machen Mut und lehren den Umgang mit Risiken.

Seit Jahrzehnten arbeitet der amerikanische Politikwissenschaftler und Dozent Warren Farrell zum Verhältnis von Männern und Frauen, zunächst in der feministischen Bewegung, später als Pionier der Männerbewegung. Gemeinsam mit dem weltbekannten Autor und Paartherapeuten John Gray („Männer sind anders, Frauen auch“) veröffentlichte er 2018 „The Boy Crisis: Why Our Boys Are Struggling and What We Can Do About It“ (Die Jungs-Krise: Warum unsere Jungen Probleme haben und was wir dagegen tun können). Er wurde von der Financial Times of London zu einem der 100 weltweit führenden Vordenker gewählt. Im November trat Warren Farrell auf der von dem weltbekannten kanadischen Psychologen Jordan Peterson initiierten „Alliance for Responsible Citizenship“ in London auf, über die die „Tagespost“ ausführlich berichtete. Sein Vortrag „The Boy Crisis: We need more men to love and to be loved“ ist auf Youtube unter @arc_conference abrufbar.

Herr Farrell, Ihnen wird vorgeworfen, dass sie sich vom Feministen zum „Maskulinisten“ gewandelt hätten – zu einem Fürsprecher also von Männerrechten. 

Ja, das stimmt. Ich führe deswegen gerade einen Kampf gegen Wikipedia, denn ich sehe mich gar nicht als Verfechter von Männerrechten, sondern als ein Verfechter der Rechte beider Geschlechter. Ich bin der Ansicht, dass Männer und Frauen das Recht haben sollten, sich frei zu entfalten und zu sein, was sie sein wollen. Dazu gehört auch die Freiheit, die Rolle zu leben, die in der Vergangenheit den Geschlechtern zugewiesen wurde. Nicht, weil sie dazu gezwungen werden, sondern weil das ihre eigene, freie Entscheidung ist. Ich finde es schon sehr ironisch, dass Frauen einerseits sich dafür einsetzen, wie ein Mann leben zu können, und andererseits Männer dafür verurteilen, dass sie so leben wie Männer.

Dieser Wunsch, ganz zu einem Mann zu werden, scheint gerade bei jungen Mädchen immer häufiger aufzutreten – unter den Jugendlichen, die sich als trans empfinden, sind nahezu 80 Prozent Mädchen. Dabei ist doch das Bild, das vielfach von Männern gezeichnet wird, eher negativ? 

Das ist richtig. Es herrscht die Vorstellung vor, dass das Patriarchat von Männern geschaffen wurde, um Frauen zu unterdrücken – man spricht von „toxischer Männlichkeit“. Nahezu alle jungen Männer, mit denen ich spreche, haben das Gefühl, verdammt zu sein. Extreme Feministinnen, die an den Universitäten die Gender Studies vertreten, sagen, es wäre völlig ausreichend, wenn nur noch zehn Prozent der Menschen Männer wären. Glückerweise wollen das die meisten Frauen nicht. Aber die meisten Menschen glauben auch, dass Frauen alles im Griff haben, und Männer eben nicht. Und die Datenlage gibt ihnen in gewisser Weise Recht: Mittlerweile sind 60 Prozent der Studenten weiblich, und die Wahrscheinlichkeit für Jungs, ohne Abschluss die Schule zu verlassen, ist deutlich höher als bei Mädchen. Männer haben auch eine wesentlich höhere Selbsttötungsrate sowie mehr Alkohol- und Drogenmissbrauch, was letztlich ja auch Formen der Selbsttötung sind. 

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Das sind erschreckende Zahlen.

Und damit nicht genug: Der Intelligenzquotient nimmt seit neuestem eher ab als zu, normalerweise steigt er mit jeder Generation um etwa zehn Punkte. Das gleiche gilt für die Spermienzahl, die seit den siebziger Jahren um 60 Prozent zurück gegangen ist. 93 Prozent der Gefängnisinsassen in den USA sind männlich (96 Prozent im Vereinigten Königreich), und deren Zahl ist seit den siebziger Jahren um über 700 Prozent gestiegen. Die Einstellung ist also: „Auf geht´s, Mädchen! Du kannst alles sein, was du willst.“ Das bedeutet in der Regel auch, eine Mutter sein zu können, und dann zu entscheiden, ob man voll berufstätig ist, Teilzeit arbeitet oder sich ganz der Kindererziehung widmet. Männer haben diese Wahl eher nicht. Meist sind sie nicht nur gezwungen, weiter in Vollzeit zu arbeiten, sondern müssen auch oft einen weniger erfüllenden, dafür aber besser bezahlten Job annehmen, um die Familie ernähren zu können.

Wie beurteilen junge Männer ihre Lage?

Viele, mit denen ich gesprochen habe, sagen mir: „Ich wünschte, ich wäre nicht als Mann geboren.“ Viele Väter, die ich interviewt habe, haben mir gesagt, dass sie sich sehr darüber gefreut hatten, einen Sohn zu bekommen. Sie haben davon erzählt, dass sie sich darauf gefreut haben, mit ihm Fußball zu spielen, mit ihm herumzutoben, wandern zu gehen, ihnen diese oder jene Sportart beizubringen. Wenn ich dann frage, was sie sich heute wünschen würden, kommt meist eine lange Pause. Und dann sagen die meisten Väter: „Ehrlich gesagt, ich glaube, mein Kind hätte ein viel besseres Leben, wenn es ein Mädchen wäre.“ Obwohl sie selbst soviel Freude daran haben, all die Dinge – Herumalbern, Ballspielen, die Natur erkunden – gemeinsam mit ihrem Sohn zu machen, wären sie bereit, dies aufzugeben, weil es für das Kind besser wäre. Weil es für ein Kind in dieser Gesellschaft so viel leichter ist, als Mädchen aufzuwachsen. 

Was war der Auslöser dafür, dass sie das Buch „The Boy Crisis“ – die Jungs-Krise – geschrieben haben? 

Das waren tatsächlich zwei Erlebnisse. Eines hatte ich im Rahmen der Buchtour zu „Warum Männer sind, wie sie sind“. Ich war 1987 deswegen in Japan. Ein japanischer Leser kam zu mir und sagte, er habe in seiner Klasse mehr Probleme mit Jungs als mit Mädchen. Das habe ich dann in allen möglichen Ländern gehört. Meine Schwester erzählte mir von einem Schüler, der eigentlich sehr gut war, dann aber depressiv wurde und nicht mehr mitarbeitete. Es stellte sich heraus, dass die Eltern sich hatten scheiden lassen und er seinen Vater nur noch selten sah. Ich habe dann ein bisschen weiter nachgeforscht. In der feministischen Bewegung hatte sich die Überzeugung durchgesetzt, dass der höhere Verdienst von Männern automatisch auch mehr Macht bedeutet. Dieser Gedanke hat überhaupt nicht berücksichtigt, dass der höhere Verdienst der Familie zugutekommt – und Männer früher sterben. Im Krieg sind es Männer, die ihr Leben riskieren – in der Ukraine musste sich jeder Mann zwischen 18 und 60 bereit erklären, Kriegsdienst zu leisten, die Frauen hatten hingegen die Wahl. Männer werden auch wesentlich eher an die Front geschickt. Das ist nicht das, was ich unter Macht verstehe. Wir frühen Feministen haben nicht gesehen, dass „mehr Geld verdienen“ einfach auch heißt, „mehr arbeiten“, und damit das eigene Leben mehr dem Arbeitgeber zur Verfügung zu stellen.

Und was war das zweite Erlebnis?

In Japan gibt es den Begriff des „Karoshi“ – plötzlicher Tod durch Überarbeitung. Wenn man zu viel arbeitet, wird man ein „human doing“ statt eines „human being“ – jemand, der etwas tut, statt etwas zu sein. Man verliert also sein menschliches Leben. Dazu folgende kleine Geschichte: John Lennon war in einer meiner Männergruppen. 

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DER John Lennon?

DER John Lennon. Die Überzeugung, die er daraus mitgenommen hat, war, dass er das tun müsse, was er wirklich wollte: Mehr Zeit mit seiner zweiten Frau und seinem zweiten Kind verbringen. Das hatte er bei seiner ersten Frau und seinem ersten Kind versäumt. Er hat also fünf Jahre pausiert und seinen Sohn Sean großgezogen, statt sich dem Geschäft zu widmen. Die Leute sagen natürlich, „Naja, das war halt John Lennon, der konnte sich das leisten.“ Er wurde aber mit Klagen wegen Vertragsbruchs überzogen. Er wusste, dass es ihn Millionen kosten würde. Das, was ihn nach seiner Aussage dazu gebracht hat, es trotzdem zu tun, waren drei Dinge, die ich in der Männergruppe thematisiert hatte. Die Frage: „Was ist das größte Loch in deinem Herzen?“ – und für John Lennon war es die Tatsache, dass er seine erste Frau und sein erstes Kind vernachlässigt hatte. Dann: „Gehört dir das Geschäft, oder gehörst du dem Geschäft?“ und „Willst du ein „menschliches Wesen“ oder ein „menschliches Tun“ sein?“ Diese drei Fragen haben ihn dazu gebracht, sein Leben auf den Kopf zu stellen.

Was sind die größten Probleme, mit denen heranwachsende junge Männer zu kämpfen haben?

Das ist neben der bereits erwähnten Selbsttötungsrate der Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie die Videospielsucht. Ein durchschnittlicher Junge in den USA verbringt vor seinem 20. Lebensjahr 14.000 Stunden mit Videospielen. Das sind dreimal so viele Stunden wie er braucht, um einen Bachelor zu erlangen. Davor können Jungs bewahrt werden, wenn ihr Vater sich einbringt. Die Datenlage hierzu ist überwältigend: Herumbalgen, Necken, Risiken eingehen, die Natur erkunden – das sind alles Dinge, von denen viele Väter gar nicht wissen, wie wichtig sie sind. Zum Beispiel Herumbalgen: Kinder lernen dabei, empathisch zu sein, Grenzen zu erkennen und zu respektieren, und das führt dazu, dass sie weniger depressiv sind und eher motiviert, erfolgreich zu sein. Wenn Väter das erfahren, stärkt es ihr Selbstwertgefühl. Sie erkennen, dass ihr Verhalten nicht nur ihrer Biologie geschuldet, sondern wertvoll ist. 

Was bedeutet das für die Familie?

Das liefert natürlich auch gute Argumente in der Auseinandersetzung mit ihrer Frau: Männer können ihnen sagen, dass diese spielerischen Auseinandersetzungen tatsächlich ganz wichtig sind für die emotionale Entwicklung der Kinder, und nicht nur nervtötend. Von diesem Ausgangspunkt aus kann man verhandeln. Ich nenne das „Checks and Balances“ – Kontrolle und Gleichgewicht. Eine Mutter würde zum Beispiel ihrem Sohn sagen: „Auf diesen großen Baum darfst du nicht klettern, der ist noch zu groß, und du bist klein, das ist zu gefährlich.“ Dann fragt das Kind natürlich den Vater, und der sagt: „Naja, der Baum ist groß, sei bitte vorsichtig und pass auf, dass du nicht runterfällst.“

Wenn Kinder auf einen Baum klettern, lernen sie, Risiken einzuschätzen. Das hat einen Einfluss auf ihr Gehirn, auf ihren IQ: Wenn Neuronen losfeuern, um ungewohnte und herausfordernde Entscheidungen zu treffen, dann trägt das zur Gehirnentwicklung bei. Beides hat einen Wert: Vorsicht lehren, Umgang mit Risiken lehren, beides ist berechtigt. In diesem Beispiel könnten sich die Eltern zum Beispiel darauf einigen, dass nur bis zu einer bestimmten Höhe geklettert werden darf, und dass der Vater dabei bleibt, um aufzupassen. Risiken sind also wichtig für die Entwicklung der Kinder.

Fortsetzung folgt.

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