Pandemie

Erkenntnisquelle oder Ärgernis?

Unsichere Zahlen über Neuinfektionen und freie Intensivbetten schränken das öffentliche Leben ein. Über Sparzwänge am falschen Ort.
Jahreschronik 2021
Foto: Jan Woitas (dpa-Zentralbild) | Eine Erkenntnis der Pandemie: Von Welle zu Welle nahm die Zahl der intensivpflichtigen Patienten ab, obwohl die Inzidenzen stiegen.

Die Corona-Pandemie hat uns vieles gelehrt. Unter anderem die Bedeutung von Zahlen. Als tägliche Begleiter entscheiden sie über Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Dies geschieht immer in der Vorstellung, dass wir mit aktuellen Zahlen beurteilen können, was die nötigen Maßnahmen zum richtigen Zeitpunkt sind. Und auch, was noch auf uns zukommen wird. Zahlen haben eine gute Eigenschaft, sie sind präzise. Die Bevölkerung wurde lange Zeit täglich in Form von absoluten Inzidenzzahlen zum Neuauftreten der Infektion über den Fortlauf der Infektionshäufigkeit informiert. Die schlechte Eigenschaft von Zahlen aus der Gesundheitsversorgung: wenn Summen gebildet werden oder ein Vergleich Rückschlüsse ermöglichen soll, passieren methodische Fehler. Zahlen können dann wertlos werden. Um das zu verhindern, kommt eine Prüfung der Erfassungsmethode, der Ein- und Ausschlusskriterien bei der Datenerfassung ins Spiel.

Belastbare Ergebnisse

„Kontrollierte Bedingungen“ müssen vorliegen. So lautet das Schlagwort bei der Planung einer klinischen Studie, um „belastbare Ergebnisse“ zu erhalten. Ohne Regelwerk bei der Datenerfassung bleibt unklar, innerhalb welcher Frist was genau gezählt worden ist. Die medizinische Forschung hat diese Schwachpunkte einer Datenerfassung früh erkannt und mit dem Begriff „Good Clinical Practice (GCP)“ und der Forderung nach evidenzbasierten Studien so etwas wie einen Standard zur Anfertigung aussagekräftiger Studien geschaffen. Hier gelten nicht nur Regeln der Erhebung, sondern auch die Gesetze der Statistik, die etwas über die Gewissheit der Erkenntnis (p-Wert, Konfidenzintervall) aussagen. Da Naturgesetze überall gleich sind, erfüllen kontrollierte klinische Studien in der Regel das Kriterium der Reproduzierbarkeit. Versorgungszahlen oder das Führen von Registern sind aber keine klinischen Studien unter kontrollierten Bedingungen. Die Nachvollziehbarkeit und Vergleichbarkeit und damit die Validität von Zahlen aus Registern geschehen oft genug ohne die Standards aus klinischen Studien. Sie werden aber trotzdem für die Aufstellung von Kennziffern oder sogar für Hochrechnungen genutzt.

„Parvus error in principio, magnus error in fine“, lautet der Warnsatz des Thomas von Aquin, der auch über der Zahlenerfassung und daraus abgeleiteten Hochrechnungen stehen sollte. Ist die Liste der Fehlerquellen und sind die Möglichkeiten der Verzerrung des Resultats durch Ein- und Ausschlusskriterien („Bias“) lang, kann es zum Anschwellen oder Abschwellen der Summe führen. Dann besitzen Zahlen nachlassende Validität. Versorgungszahlen werden seit einigen Jahren unter dem Begriff „Versorgungsforschung“ präsentiert. Nachteil der Versorgungsforschung: Von dem erklärten Ziel der Kostenoptimierung in der Versorgungsforschung geht immer auch ein Gedankenstrahl auf die Zahlenerfassung über. Dieser Gedankenstrahl lautet: Unter-, Über- und Fehlversorgung vermeiden, um Kosten einzusparen. In dieser Erkenntnis-Glocke werden viele Aspekte nicht berücksichtigt. So war die Einführung der Hospitalisierungsrate von COVID-19-Kranken bei der Beurteilung einer epidemischen Gefahrenlage ein wichtiges Kriterium, mit dem das Corona-Risiko für unsere Gesellschaft erfasst werden sollte. Doch schnell wurde die Validität dieser Zahlen diskutiert, sagen sie doch erst spät etwas aus über das akute Infektionsgeschehen.

Zahlen helfen zu verstehen

Die Zahlen zur Versorgung der Bevölkerung mit Intensivbetten in der Corona-Epidemie bringen uns den Ursachen und der Verbreitung der Erkrankung, den Infektionswegen, ein wenig näher. Einerseits könnte im gelungenen Management der Intensivkapazitäten eine Lösung zur Beendigung der Corona-Epidemie stecken. Andererseits könnten alle Maßnahmen, die der Politik zur Verfügung stehen, zu spät kommen, wenn das Geschehen im Krankenhaus zur Steuerung genutzt wird. Plausibel ist: Wenn genügend Intensivbetten zur Verfügung stehen und ausreichend Personal vorhanden ist, um diese Patienten zu versorgen, könnte die Häufigkeit der Todesursache COVID-19 so weit reduziert werden, dass sie an Bedeutung und damit an Schrecken verliert.

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Doch auch dieser Zahlenzusammenhang von Intensivbetten, Krankheitsverläufen und Infektionsgeschehen ist mit Schwachstellen ausgestattet. Das hat Reinhard Busse, Professor für Management im Gesundheitswesen an der Technischen Universität in Berlin, kürzlich in einem Interview (Welt online, 21.12.21) deutlich gemacht. Deutschland hat einerseits viermal so viele Intensivbetten wie Großbritannien und auch mehr als Schweden oder Frankreich, bezogen auf die Bevölkerungszahl. Dass man trotzdem gerade hierzulande überlaufende Intensivstationen befürchtet, hänge damit zusammen, dass wir mehr Corona-Patienten intensivmedizinisch versorgen als andere. Hier sind also die Eingangskriterien zur Intensivstation andere.

Intensivwahrscheinlichkeit sinkt

Im Laufe der beiden Corona-Jahre zeigte sich: Die verschiedenen Corona-Wellen waren mit einer sich stetig verringernden Intensivwahrscheinlichkeit verbunden. Immer weniger der Erkrankten mussten auf der Intensivstation beatmet werden, bei gleichzeitig steigender Inzidenzzahl. Wie ist das möglich? Als Ursache kommt der steigende Bevölkerungsanteil der Geimpften in Frage, aber auch die Lernkurve der Ärzte, die sich in der Therapie der COVID-19-Kranken schnell verbessert haben. Möglicherweise ist auch eine Verringerung der Krankheitssymptome mit dem sich ändernden Genom des Virus im Spiel. Busse erläutert einen nur in Deutschland auffälligen Effekt: Es kommen mehr Kranke von der Normal- auf die Intensivstation als in anderen Ländern. Es seien „dreimal so viele wie in den Niederlanden oder Dänemark und viermal so viele wie in Großbritannien“. Busse hat auch gleich eine Erklärung dafür. In Deutschland gebe es „die Eigenheit, Patienten von anderen Stationen auf Intensiv zu verlegen, wenn sie regelmäßig überwacht werden müssen.“ Grund sei die Personalausstattung der Normal- im Vergleich zu den Intensivstationen. In Dänemark gebe es diesen Unterschied nicht. Busse sieht das dänische Plus darin, dass weniger unnötige Betten vorgehalten werden. Er argumentiert so, um Argumente für eine Kostenersparnis zu finden.

Was Gesundheitsökonomen nicht einkalkulieren: Wer eine Volkswirtschaft wieder ans Laufen bringen möchte und dies mit Vermehrung des Pflegepersonals auf den Intensivstationen erreichen könnte, der sollte dies auch tun. Das volkswirtschaftliche Interesse steht damit dem betriebswirtschaftlichen Interesse der Kliniken diametral gegenüber. Die Rechnung von Busse lautet: In Deutschland sind von 30 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner derzeit nur sechs mit COVID-Patienten, aber 21 mit anderen Patienten belegt. Drei Betten sind frei. Busse wundert sich, dass drei frei sind und derart viele Nicht-Covid-Patienten auf der Intensivstation sind. Könnte es nicht sein, dass 10 Prozent der Betten frei sind, weil es trotz relativem Unterschied zu anderen Ländern absolut auf der Intensivstation an Personal mangelt? Busse sieht eine unheilvolle Verknüpfung von geschäftlichen Interessen („Die deutschen Krankenhäuser haben ein Interesse daran, dass sie gefüllt sind.“) und einem gar nicht vorhandenen Bedarf: „Wir haben so viele Patienten, weil wir so viele Betten haben!“ Bedeutet das, dass wir zwar eine Corona-Epidemie haben, diese aber nur durch das Test-, Impf- und Behandlungsangebot sowie den medialen Focus auf diese eine Virus-Erkrankung am Leben erhalten wird? Sind wir ein bisschen wie „Donnerstag“ aus dem gleichnamigen Anti-Verschwörungs-Roman („Der Mann, der Donnerstag war“, 1908) von Gilbert Keith Chesterton? Donnerstag wollte eine nicht vorhandene Weltverschwörung von Anarchisten aufdecken und musste zum Schluss entdecken, dass er selbst Teil dieser Runde geworden war.

Die Notaufnahme als Einfallstor

Busse geht noch einen Schritt weiter in seinem Hinterfragen der Intensivstationen. Er weist darauf hin, dass die Hälfte der Patienten, die im Krankenhaus behandelt werden, ohne Einweisung kommen. Das Einfallstor sei die Notaufnahme. Dort entscheide das Krankenhaus dann, wen es dabehalten möchte. Die Wahrscheinlichkeit für eine stationäre Aufnahme liege bei 50 Prozent. Und das sei ein sehr hoher Wert im internationalen Vergleich, wo es im Schnitt nur 25 Prozent sind. Auch hier scheint das Einsparen das erkenntnisleitende Interesse des Gesundheitsökonomen zu sein. Dass auf der Intensivstation schwerkranke Menschen mit geringer Überlebenschance liegen, ist für ihn nicht nur eine Feststellung, sondern ein Kritikpunkt („Es sind häufig Menschen, denen man mit einer Therapie keinen Gefallen erweist.“) Sein Fazit: Spätestens nach der Pandemie müsse das Wissen darüber sichergestellt werden, wer auf Intensivstationen behandelt wird. „Wir müssen uns fragen, was wir da tun.“ Das sei dringlich und überfällig. Möglich wird dies aber nur dann, wenn Zahlen, die uns zur Beurteilung zur Verfügung stehen, wesentlich kritischer erhoben, sauber verglichen und ohne falsche Hochrechnungen oder ein erkenntnisleitendes Interesse präsentiert werden.

Zahlen sind präzise. Ob sie jedoch die Wirklichkeit des Gesundheitssystems auch wiedergeben, hängt von vielen Faktoren ab. Ihre Ursachen lassen sich aus der Epidemiologie oder aus Daten der Versorgungsforschung nur selten aufdecken.

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