Kopenhagen

Die tragisch Liebenden

In der unerfüllten Sehnsucht der von Hans Christian Andersen erschaffenen Kleinen Meerjungfrau spiegelt sich die Geschichte seiner eigenen Seele.
Boomender Tourismus in Dänemark
Foto: Francis Dean (dpa) | Symbol unerfüllter Sehnsucht: die Kleine Meerjungfrau in Kopenhagen.

Die Kleine Meerjungfrau, das berühmte Wahrzeichen der Stadt Kopenhagen, wurde von einem Bierbrauer gestiftet. Der junge Bildhauer Edvard Eriksen (1876–1959) fertigte die Skulptur, Carl Jacobsen (1842–1914) bezahlte die Arbeit. Der Sohn des Gründers der Carlsberg-Brauerei hatte am 26. Dezember 1909 im Königlichen Theater eine Vision. Der alte Bierbrauer sah die Ballerina Ellen Price (1878–1968) in der Rolle der Kleinen Meerjungfrau. Er schaute ein Bild von Schönheit und Schwermut.

Lesen Sie auch:

Andersens Kleine Meerjungfrau fand auf dem Meeresgrund die Skulptur eines Mannes. In diesem Bild schaute sie das Abbild der Liebe. In der Gestalt des Prinzen meinte sie das Urbild gefunden zu haben. Das war ein Irrtum. Andersens Märchen schildert die Tragödie einer großen Liebenden, deren Sehnsucht nach erfüllter Partnerschaft im Leben ungestillt bleibt. Sein Märchen ist die Geschichte seiner eigenen Seele. Die Kleine Meerjungfrau ist eine tragisch Liebende wie er.

„Ein Poet ist ein Mann, der zugleich Weib ist“

„Ich kenne keinen Dichter“, schreibt Dänemarks großer Kulturwissenschaftler Georg Brandes, „dessen Talent geschlechtsloser ist, dessen Begabung weniger ein bestimmtes Geschlecht verrät, als Andersen. Deshalb hat er seine Stärke darin, Kinder darzustellen, bei denen das bewusste Geschlechtsgefühl noch nicht hervorgetreten ist. Das Ganze beruht darauf, dass er das, was er ist, so ausschließlich ist, kein Gelehrter, kein Denker, kein Bannerträger, kein Kämpfer, wie mehrere unserer übrigen Dichter, sondern ausschließlich Poet. Ein Poet ist ein Mann, der zugleich Weib ist.“

Natürlich fühlte sich die Primaballerina Ellen Price durch das Angebot des Bierbrauers geehrt, doch nackend wollte sie dem Bildhauer nicht Modell sitzen. Der Bildhauer ließ für den Körper der Skulptur seine Frau Eline Eriksen (1881–1963) als Modell sitzen und für das Haupt die Tänzerin. Am 23. August 1913 wurde die Skulptur an der Langelinie aufgestellt. Dieser Tag gilt seitdem als Geburtstag („fodselsdag“) der Kleinen Meerjungfrau.

Unzerstörbare Schönheit

Die Schönheit fordert die Zerstörungslust heraus. Mit Farbbeuteln und Eisensägen haben dunkle Gestalten im Laufe der kommenden Jahre immer wieder die Kleine Meerjungfrau beschmiert und ihr Gliedmaßen abgetrennt. Ein dummes und sinnloses Tun. Denn Schönheit ist unzerstörbar. Das Original der „Lille Havfrue“ befindet sich an einem verborgenen Ort. Am Hafen ist nur sein Abbild zu sehen.

Die Kleine Meerjungfrau am Hafen von Kopenhagen zeigt eine Seele, die auf Erlösung wartet. Andersen war von einem nahezu unersättlichen Verlangen nach Anerkennung erfüllt. Unter den Kopenhagener Kulturträgern, am dänischen Königshof, auf den Landgütern des Adels, in den großen Städten Europas suchte und fand er jene Zuwendung, nach der es ihn dürstete. Andersen wollte von allen geliebt werden, und die Welt liebte ihn. Ursprünglich wollte er Balletttänzer und Schauspieler werden. Der Traum platzte. Doch Andersen hatte genügend Selbstbewusstsein, um sich aus allen Erniedrigungen und Misserfolgen immer wieder zu neuem produktiven Tun zu erheben.

Er glaubte an die Vorsehung und daran, dass alles Lieben und Leiden letztlich sinnhaft auf eine Erfüllung ausgerichtet ist. Es gibt in jedem Leben so etwas wie einen roten Faden. Er ist vielleicht nicht immer sichtbar, doch leuchtet er zuweilen auf. In seiner Autobiographie „Meines Lebens Märchen“ formuliert er diesen Glauben an die Vorsehung so: „In der englischen Marine zieht sich durch alles Tauwerk, großes wie kleines, ein roter Faden, der anzeigt, dass es der Krone gehört. Durch das menschliche Leben, im kleinen wie im großen, zieht sich ebenfalls ein unsichtbarer Faden, der bekundet, dass wir Gott gehören.“

Andersens desolate Familienverhältnisse

Auf einer seiner zahlreichen Reisen durch die Schweiz begegnete Andersen auch dem berühmten Pater Gall Morel aus dem Kloster Einsiedeln (14. Juli 1861). Der reichte dem Gast aus Dänemark ein Blatt Papier und bat ihn um eine Schriftprobe. Andersen notierte diese Worte als eine Art Glaubensbekenntnis.

Hans Christian Andersen hat in seiner autobiographischen Schrift „Meines Lebens Märchen“ Auskunft über seine desolaten Familienverhältnisse gegeben. Er erlebte Grenzsituationen, wie sie sein Freund Charles Dickens in seinen Romanen beschrieben hatte. Andersen wollte sich aus der Welt seiner Herkunft ins Licht der Bühnen von Kopenhagen erheben. Er glaubte sich berufen: Zum Balletttänzer, zum Schauspieler, zum Dichter. Allen Künstlern, denen er Theaterrollen vorsprach, vor denen er tanzte oder denen er eigene Texte vorlas, schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, schauten den jungen Burschen aus der Stadt Odense entsetzt in die Augen.

Es verschlug ihnen die Sprache vor diesem Missverhältnis von Erwählungsbewusstsein und Unvermögen. Er wurde an den Theatern von Kopenhagen abgelehnt. Man sagte es ihm in brutaler Ehrlichkeit direkt ins Gesicht: Aus ihm werde nie ein Dichter. Man hielt ihn für dumm, ja wahnsinnig. Der Sohn eines früh verstorbenen Schusters und einer Alkoholikerin, der Halbbruder einer Prostituierten, der Enkel eines psychisch schwer erkrankten Großvaters suchte Erlösung von den Banden seiner Herkunft. Er hatte überspannte Nerven, verfiel immer wieder in eine krankhafte Schwermut und besaß den Hang, das Traurige im Leben zu suchen.

Mädchenhaftes Wesen

„Er ist ein Mädchen!“, hieß es unter den Lehrlingen von Odense. Andersen widersprach nicht, berichtet in seiner Autobiographie selbst vom „fast Mädchenhaften meines Wesens“. In Kopenhagen mit vierzehn Jahren angekommen, fühlte er sich wie ein Hund, der gegen den Strom schwimmt und noch mit Steinen beworfen wird.

Wie die Kleine Meerjungfrau liebte Andersen die Kunst. In der Gestalt einer schwedischen Opernsängerin glaubte er ihr irdisches Bild zu schauen. Jenny Lind (1820–1887) wurde auf allen Bühnen der Welt als überragende Sopranistin gefeiert. Ihr Bild schmückte noch in unserem Jahrhundert den 50-Kronen-Schein ihrer schwedischen Heimat.

„Erst durch Jenny Lind habe ich die Heiligkeit der Kunst verstanden, durch sie habe ich gelernt, dass man sich im Dienst des Höchstens selbst vergessen muss. Kein Buch, keine Persönlichkeit haben besser und veredelnder auf mich als Dichter gewirkt als Jenny Lind“, bekennt Andersen. „Keine andere Sängerin wird man neben sie stellen können. Man lacht, man weint, es ist gleichsam wie ein Kirchgang, denn man wird ein besserer Mensch. Man fühlt die Gottheit in der Kunst, und wo wir Gott von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, dort ist heilige Kirche.“

Er nutzte die Schwermut als produktive Kraft

Andersen suchte auf seinen zahlreichen Reisen die Anerkennung der Großen seiner Zeit, und er fand sie. Wollte man die Wochen und Monate seines Reisens zusammenzählen, so käme man auf über acht Jahre, die er außerhalb von Kopenhagen verbrachte. Andersen war ein Glückskind, aber er besaß zugleich die Selbstliebe, diesem Glück auf die Sprünge zu helfen. Die Kleine Meerjungfrau ist auch eine Erwählte, doch sie hat kein Durchhaltevermögen auf dem Erlösungsweg. Nach ihrer Verwandlung versinkt sie am Königshof in Lethargie und Melancholie. Hans Christian Andersen wusste die Schwermut als produktive Kraft zu nutzen. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, Strategien der Erlösung für die Kleine Meerjungfrau zu entwickeln. Mit Augen und Händen hätte sie dem Prinzen die wahre Geschichte seiner Rettung erzählen können. Aber sie wollte es nicht. Sie liebte und wollte in ihrer Liebe keine Erwiderung finden. Ihre Liebe zielte auf ein Höheres als die Zuwendung dieses Prinzen. Sie wusste es nur nicht. Nach ihrem Tod wurde sie in einen Engel verwandelt.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen. Kostenlos erhalten Sie die aktuelle Ausgabe

Themen & Autoren
Uwe Wolff Charles Dickens Hans Christian Andersen Kulturwissenschaftler

Weitere Artikel

Engel tauchen überall auf. Eine Rezension über das kulturgeschichtlich Buch „Die Engel des Lebens“. Deutungen des Wirkens der Engel. 
09.10.2022, 18 Uhr
Vorabmeldung

Kirche

In der 17. Folge des „Katechismus-Podcasts“ befasst sich Weihbischof Schwaderlapp mit der Beziehung, die zwischen Schrift, Überlieferung und Lehramt besteht.
22.03.2023, 14 Uhr
Meldung
Was auf „synodalen Wegen“ derzeit geschieht, ist mehr als die Wiederholung altbekannter Forderungen.
21.03.2023, 19 Uhr
Martin Grichting