Aachen

Comeback einer Heiligen

In einem Schrein im Aachener Dom befinden sich die Reliquien der Heiligen Corona.
Heilige Corona im Dom zu Aachen
Foto: Ralf Roeger (dpa) | Zufall oder mystisch: Ein Restaurator reinigt und konserviert zur Zeit den Schrein der Heiligen Corona aus dem Aachener Münster. (Foto: Ralf Roeger/dpa)
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Europa um den Jahrtausendwechsel. Ein Fieber hat die Gelehrten ergriffen – die Angst vor dem nahen Weltuntergang. Als sichere Vorzeichen dafür gelten klimatische Schwankungen. Jedes Starkregenereignis, jedes Ausbleiben von Niederschlag, jede verhagelte Ernte kann ein Beweis dafür sein, dass kommt, was kommen muss: die Apokalypse. Und wer anders trüge die Schuld an der Misere, als der sündige Mensch? Sorgenumwölkt tragen die Computisten die einzelnen Daten zusammen, summieren sie in Tabellen und berechnen so die wenigen, zur Umkehr noch verbleibenden Jahre, bis die Menschheit unabwendlich vom drohenden Weltenbrand vertilgt werden wird – so oder so ähnlich war die Stimmung, als Corona nach Deutschland kam.

Als Corona nach Deutschland kam

Dies geschah anno 997. Ihren Weg über die Alpen machte Corona im Reisegepäck des Regierungschefs höchstpersönlich, denn geholt hatte er sie sich in Italien, wohin Otto III. anlässlich seiner Kaiserkrönung reisen musste. Es gehörte damals zum guten Ton, dass man von dort mit einem ansehnlichen Reliquienschatz im Koffer zurückkehrte, um die wirkmächtigen Relikte an bevorzugte Kirchen im kalten Norden zu verteilen. So gelangten die Überreste der Heiligen Corona gemeinsam mit denen des Heiligen Leopardus – zusammen immerhin sechs Kilogramm – nach Aachen ins hochehrwürdige Marienmünster; zumindest, wenn man den etwas grobschlächtig ausgeführten Inschriften vertraut, die sich auf den schlichten Bleisärgen des Heiligenpaars befinden.

Gefunden hat man die giebelhausförmigen, nur nachlässig gearbeiteten Sarkophage bei der Suche nach dem Grab Karls des Großen im Jahr 1843. Sie waren in zwei separaten Grüften bestattet; im Nordost- bzw. Südostjoch des majestätischen Karolinger-Oktogons, in welchem sechs Jahrhunderte lang römisch-deutsche Könige geweiht wurden, ehe sie in Rom die Kaiserkrone empfingen.

Computistik als angesagte Wissenschaft

Kaiser Otto III. gilt als großer Förderer der Hohen Domkirche zu Aachen. Noch zu Lebzeiten seines gleichnamigen Vaters wurde er schon als Dreijähriger zum deutschen König gewählt. Nach dem Tode Ottos II. führte zunächst seine aus Byzanz stammende Mutter Theophanu die Regierungsgeschäfte, danach seine Großmutter Adelheid, die Witwe Ottos des Großen. Die damals angesagteste Wissenschaftsdisziplin war die Computistik („Computus“, das heißt „Berechnung“, etwa des Ostertermins), die sich anschickte, anhand der Lebensdaten von Personen des Alten und Neuen Testaments nicht nur den Anbeginn, sondern auch das Ende aller Zeiten exakt zu berechnen. Heißester Kandidat für den Termin des Jüngsten Gerichts war die tausendste Wiederkehr der Geburt, wahlweise der Kreuzigung Christi.

Angesichts des nahen Millenniums war Ottos Epoche von eschatologischer Weltuntergangsstimmung geprägt. Wallfahrtswesen, Reliquienverehrung und Mönchtum erblühten. Der junge Kaiser konnte die Ergebnisse der Wissenschaft nicht ignorieren. So nimmt es nicht wunder, dass der Hl. Bruno von Querfurt den mit nur 21 Jahren verstorbenen „Jüngling im Sternenmantel“ als einen Charakter beschrieb, der „vor den Augen der Menschen Kaiser und Herrscher, in seinem Herzen und vor den Augen des Schöpfers jedoch Mönch war“ – ganz, wie es von einem Endkaiser erwartet wurde.

Martyrium in Syrien erlitten

Als Herkunftsort der im Zuge von Ottos Endzeitpolitik nach Aachen transferierten Reliquien wird Otricoli genannt, wo der in Ungnade gefallene und um 362 enthauptete kaiserliche Kämmerer Leopardus seine bis dahin vorletzte Ruhe gefunden haben soll. Dafür spricht, dass die heute in Umbrien gelegene Stadt ehedem zur „Sabina“ zählte, einer Landschaft, die von den erklärten Gegnern des Kaisers beherrscht wurde. Der widerspenstige Clan der Crescentier fühlte sich beim Plündern der Kirchenkassen in Rom durch die Kaisermacht gestört und war deswegen schon mit Ottos Vater im Clinch gelegen. Zu Otricoli als Quelle passt außerdem noch eine Lokalsage, nach der Coronas Leidensgenosse, der Heilige Victor von Damaskus, von dort stammen soll. Zusammen mit diesem in den Orient abkommandierten Legionär habe die Heilige an einem 14. Mai im Jahr 160 oder 177 ihr Martyrium in Syrien erlitten, aber auch andere Orte werden genannt. Im Falle Coronas wurden zwei Palmen so heruntergebunden, dass die daran Gefesselte beim Hochschnellen der Stämme zerrissen wurde.

Patronin der Holzfäller

Die Art ihres Martyriums legt nahe, warum die Heilige von Fleischhauern und Holzfällern als Patronin gewählt wurde; noch heute bergen unglücklich gefällte und unter Spannung stehende Bäume ein hohes Risiko für Waldarbeiter. Ihr Name („Krone“) war und ist die Bezeichnung für zahlreiche Währungen, weswegen sie in einem volksmagischen Corona-Gebet auch von Schatzgräbern und in Geldangelegenheiten angerufen wurde. So mancher Falott hat sich wohl auch beim Lotterie- und Glücksspiel auf sie verlassen, in der Hoffnung, die Heilige möge bei ihm die Kronen nur so klimpern lassen. Coronas neuerdings in den geschwätzigen Zünften ventilierte Zuständigkeit für epidemische Erkrankungen ist dagegen weniger als dürftig belegt. Allenfalls von den Bauern im österreichischen St. Corona am Wechsel wurde sie deswegen angerufen; und auch nur gegen Viehseuchen.

Reliquien im Doppelschrein

In Aachen entschied man sich 1910, die Bleisärge der Heiligen abermals auszugraben, um die gemeinsam aus Italien zugereisten Corona und Leopardus nach über 900 Jahren zusammenzulegen und in einen neuen, der Würde der Reliquien angemesseneren Doppelschrein zu betten. Im Jahr darauf wurden der Öffentlichkeit verschiedene Entwürfe präsentiert. Den Zuschlag erhielt schließlich der Lokalmatador Bernhard Witte. Wie schon sein Vater zum Aachener Stiftsgoldschmied ernannt, arbeitete er für zahlreiche, auch internationale Auftraggeber; u.a. für den Kaiser von Brasilien, den Erzbischof von Chicago und den Jerusalemer Patriarchen. Seit 1895 trug er zudem den Titel eines „Goldschmieds des Heiligen Stuhls und der Päpstlichen Paläste“.

Witte – dessen letzte Arbeit übrigens das Brustkreuz von Kardinal Frings war, der in der Zeit von Hamsterfahrten und Kohlenklau unsterblich werden sollte – entwarf ein Kuppelreliquiar im Stil der kölnischen Romanik. Das voluminöse, fast 100 Kilogramm schwere Spätwerk historistischer Kirchenkunst ist in Form einer Kreuzkuppelkirche gestaltet und mit 375 verschiedenen Edel- und Halbedelsteinen besetzt. Getriebene Reliefs zeigen das Martyrium der Heiligen, ihre Überführung nach Aachen und die Erhebung ihrer Särge unter dem deutschen Kaiser Wilhelm II.; Elfenbeinschnitzereien präsentieren Tugenden, Statuetten stellen die Ottonenkaiser vor. Die emaillierte Kuppel im Zentrum wird von Achatsäulen getragen, zwischen denen weitere Zelebritäten sitzen, u.a. Papst Gregor V., ein Onkel Ottos III., sowie sein Kanzler, Erzbischof Heribert von Köln. Bis zu 50 Angestellte arbeiteten an dem ausschließlich aus privaten Mitteln finanzierten Corona-Leopardus-Schrein, der schon 1912 auf dem 59. Deutschen Katholikentag präsentiert werden konnte.

Schmiedekunst des Historismus

Mit dem Ende des wilhelminischen Kaiserreichs 1918 aber endete auch bald die Freude an der Neoromanik; zuletzt gar verschwand das pompöse Gefäß samt heiligem Gebein für ein Vierteljahrhundert im Depot der Domschatzkammer. Anlässlich einer für den kommenden Juni geplanten Ausstellung über die Goldschmiedekunst des Historismus? unter dem Titel „Mittelalter 2.0“ sollte der Schrein demnächst gemächlich restauriert werden, als mit der Corona-Pandemie das Interesse an Corona aufkam. Insofern war das Bistum Aachen kaum eine Nasenlänge besser vorbereitet auf die plötzliche Reliquien-Nachfrage, als die Bundesregierung auf den zu erwartenden Bedarf an Schutzmasken und Desinfektionsmitteln. Die Restaurierung wurde nun beschleunigt vorangetrieben.

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Georg Blüml Carolus Magnus Gregor V. Heiligtum Jesus Christus Kaiser Otto III. Kaiser Wilhelm II. Katholischer Kirchentag Kreuzigung Christi Mönche Otto III. Wilhelm II.

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