Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Geschichte

Wenn Zeitgeist zum Ungeist wird

Die Wernerkapelle von Bacharach erinnert heute als Gedenkort daran, dass dieses so gut zur Rheinromantik passende Bauwerk aus dem Wahn des Antijudaismus erschaffen wurde.
Bacharach mit seiner Kirche und der Wernerkapelle.
Foto: Imago / Dreamstime Dudlajzov (www.imago-images.de) | Die Wernerkapelle von Bacharach ist nach einem ermordeten Jungen benannt, der lange in der Kapelle beigesetzt war. Sein Mord wurde zum Anlass antijüdischer Pogrome.

Altdeutsche Ortschaften und Rebhänge, die zu schaurig-schönen Burgruinen steil aufsteigen, säumen die Ufer des Mittelrheins. Dichter, Maler und Musiker kamen Anfang des 19. Jahrhunderts hierher, um die inneren Bilder ihrer Sehnsucht nach einer gemütvoll, edel und kühn vorgestellten mittelalterlichen Vergangenheit wiederzufinden. Unter ihnen Lord Byron und Clemens Brentano, die ihre Eindrücke in Dichtungen festhielten, William Turner, die Landschaft malend, und Victor Hugo, der eine „Rheinreise“ verfasste. Auch Komponisten wie Franz Liszt, der drei Sommer auf der Rheininsel Nonnenwerth verbrachte, ließen sich von rheinromantischen Motiven inspirieren. Die Schriftstellerin Johanna Schopenhauer, lebensfrohe Mutter des misanthropischen Philosophen, folgte ebenfalls dem Ruf dieser Rheinromantik. Am 22. September 1818 ließ sie sich mit einem Nachen von Bingen nach Sankt Goar rudern, vorbei an Bacharach, einem Weinort, der alles verkörpert, was die Reisenden der Zeit suchten: Fachwerkidylle im Schutz einer Stadtmauer mit ihren Toren und Türmen, die noch romanisch geprägte Pfarrkirche St. Peter und Burg Stahleck auf einem Bergsporn über dem Ort. Vor allem die Ruine einer Kapelle, „ein mit gotischen Verzierungen herrlich geschmückter Fensterbogen“, wie sie sich notierte, zog ihren Blick an. Mehr konnte sie darüber nicht berichten.

Den Rheinromantikern waren die wie eine Krone dem Stadtbild aufgesetzten Spitzbogenfenster, deren Maßwerk die lastende Schwere der Materie in Licht und Form auflöst, vor allem ein Sinnbild für das Streben des mittelalterlichen Menschen nach mystischer Erhebung und Lösung vom Irdischen. Heinrich Heine, den es auch an den Rhein zog, wo er die Loreley mit wehmütigen Versen besungen hat, kannte den Namen der Kapelle und wusste von ihrer dunklen Geschichte, an die er in einem Romanfragment mit dem Titel „Der Rabbi von Bacherach“ (in dieser Schreibweise) anknüpfte. Nach einem ermordeten Jungen, der lange in der Kapelle beigesetzt war, ist sie bis heute als „Wernerkapelle“ bekannt.

Der Mord am Tagelöhner Werner

Die Leiche des durch brutale Gewalt zu Tode gebrachten, etwa 16 Jahre alten Werner wurde Ostern 1287 im Gesträuch am Winzbach bei Bacharach gefunden. Der aus dem Hunsrück stammende Junge hatte sich als Tagelöhner verdingt und ist wohl auch bei Juden in Oberwesel, dem stromab nach Bacharach nächsten Ort, in Dienst gewesen. Der übel zugerichtete Tote blieb drei Tage zur Leichenschau aufgebahrt, wo die entsetzten Anwohner an ihm vorbeidefilierten. Rasend schnell wird sich die Nachricht von der grausamen Tat verbreitet haben, und wie immer in solch ungeklärten Fällen blühten Vermutungen und Verdächtigungen, wobei der Finger bald in Richtung der in Oberwesel ansässigen Judengemeinde wies, die diesen „Christenknaben“ zweifellos auf dem Gewissen habe. Ein blindwütiger Mob zog daraufhin zum Nachbarort und meuchelte wahllos Juden, ein Pogrom, das bald auch auf Boppard und weitere Orte am Mittelrhein übergriff.

Juden hätten an dem Jungen einen Ritualmord begangen, um mit seinem Blut einen sakrilegischen Kult zu feiern, so das schnell aufkommende Gerücht. Es lag in der Luft, denn ab 1265 gab es am Mittelrhein wiederholt solche Anschuldigungen gegen Juden, die zu Verfolgungen führten. Ein Haus in Oberwesel wurde bestimmt, in dessen Kellergewölbe man den Tatort sehen wollte. Eine als Magd in diesem Haus beschäftigte Zeugin meldete sich, die den Mord angeblich beobachtet hatte. Später wurde das Vorgehen der Mörder noch in allen Einzelheiten ausgemalt. Werner sei mit dem Kopf nach unten an einen Pfahl gebunden worden, um ihm Blut abzuzapfen. Durch Folterung habe man versucht, ihn zum Erbrechen der zuvor empfangenen Hostie zu bringen. Damit kam noch Hostienschändung zur Anschuldigung hinzu, womit der judenfeindliche Giftcocktail der Zeit komplett war und Werner als ein christlicher Märtyrer angesehen wurde.

Verehrung des ermordeten „Christenknaben“

Die Verehrung Werners begann kurz nach Auffindung seiner Leiche. In der Kunibertskapelle auf einem Felsplateau über der Stadt erhielt er ein ehrendes Grab. Der anschwellende Zustrom der Pilger erforderte aber bald den Bau einer größeren Kapelle, der schon zwei Jahre nach dem Vorfall begonnen wurde, aber nie richtig in Gang kam, denn dem vermeintlichen Märtyrer fehlte die kirchliche Anerkennung, sodass die Einnahmen mit dem Rückgang der Wallfahrt abebbten. Dem konnte erst der ab 1421 in Bacharach amtierende Pfarrer Winand von Steeg durch Einleitung eines Heiligsprechungsverfahrens neuen Schwung verleihen und ausreichend Geld für den Weiterbau einwerben. Spätestens 1645 hatte man die Kapelle dann fertiggestellt.

Im Laufe der Zeit entstanden weitere Verehrungsstätten für den ermordeten „Christenknaben“. 1288 stiftete Pfalzgraf Ludwig II. ein Kloster, das am Auffindeort der Leiche errichtet wurde. In der Kapelle des Heilig-Geist-Hospitals von Oberwesel zeigte man eine hölzerne Säule, an die Werner angeblich während seines Martyriums gefesselt war. Mitte des 17. Jahrhunderts erhielt sie ein zusätzliches Werner-Patrozinium.

Die Werner-Wallfahrt lahmte jedoch immer wieder, denn eine Heiligsprechung war nie in Sicht. Dazu kamen widrige Umstände. Während des Dreißigjährigen Krieges nahmen spanische Truppen die Gebeine Werners mit, die seitdem unauffindbar sind. 1689 wurde die Wernerkapelle im Pfälzischen Erbfolgekrieg bei der Sprengung von Burg Stahleck schwer beschädigt und blieb Ruine. Das von den Mönchen aufgegebene Kloster am Auffindeort verfiel.

Der Kult verlagerte sich damit nach Oberwesel, wo er im 18. Jahrhundert noch einmal auflebte. Allerdings war da der „gute Werner“ nur noch ein regional verehrter Stadtpatron und Schutzheiliger der Winzer. Nach der Shoah kam der antijüdische Ursprung der Wernerverehrung in den Blick einer kritischen Öffentlichkeit. Das Bistum Trier strich 1963 den Wernergedenktag aus dem liturgischen Kalender der Diözese, in den er 1761 eingetragen wurde, aber nur zögerlich nahm man am Rhein Abschied vom „guten Werner“. Bis 1971 wurde eine jährliche Prozession zu seinen Ehren fortgeführt, und erst 2008 ging das Patrozinium der Hospitalskapelle auf die Ordensgründerin Rosa Flesch über. Die Ruine der Kapelle in Bacharach erhielt 1996 den Charakter eines Gedenkortes.

Die Suche nach den Dunkelmännern

Dunkelmänner hinter religiös aufgeladenen Untaten werden immer gerne unter den Klerikern gesucht. Heine deutet das in seinem Romanfragment raunend an: „Die Geistlichkeit herrschte im Dunkeln durch die Verdunkelung des Geistes.“ Eine solche Erzählung ist auch unter den heutigen rheinischen Heimatkundlern verbreitet, von Matthias Schmandt in gewagter Spekulation konstruiert. Bereits seine Ausgangsthese: „Heilige werden also gemacht“, die darauf abzielt, im Falle Bacharachs einen Macher zu suchen, ist falsch. Heilige werden zuerst vom Volk durch spontane Verehrung in den Ruf der Heiligkeit gebracht. Ob das berechtigt ist, prüft dann die Kirche nach strengen Maßstäben, die heiligmäßige Personen von denen unterscheiden, die aus Aberglauben oder Massenwahn wie dem Antijudaismus fälschlich verehrt werden, denn die Volksseele kann irregeleitet sein durch einen Zeitgeist, der Ungeist ist. So verbot 1247 Papst Innozenz IV., die Juden des Ritualmordes zu beschuldigen, was Martin V. mit einer Bulle 1422 bekräftigte. Werner hatte daher keine Chance, zur Ehre der Altäre erhoben zu werden, entsprechend nahm seine Anziehungskraft stetig ab.

Lesen Sie auch:

Der Dunkelmann, den Schmandt dingfest machen will, ist Pfarrer Heinrich von Crumbach. Er sei mit hoher Wahrscheinlichkeit der „Heiligenmacher“ gewesen, der den „guten Werner“ wie nach einer „Regieanweisung“, der Vita des William von Norwich folgend, „kreiert“ habe. Die Übereinstimmungen mit diesem früheren Fall eines angeblichen Ritualmords aus dem Jahre 1144 lege das nahe. Unter anderem wird zur Untermauerung angeführt, dass in beiden Fällen die Leiche an abgelegenem Ort im Gebüsch versteckt gefunden wurde. Wo anders, darf man fragen, versteckt ein Mörder sein Opfer?

Naheliegend ist vielmehr, dass die Volksseele angesichts der Verstümmelung Werners überkochte und einer allbekannten antijüdischen Verleumdung folgte. Erst vier Jahre vor der Ermordung Werners hatte man in Bacharach eine solche aus Mainz berichtete Anschuldigung zum Anlass genommen, die ansässige Judengemeinde auszulöschen. Natürlich ist auch der Klerus nicht vor solchen unchristlichen Aufwallungen, die den kirchlichen Lehren klar widersprechen, gefeit.


Der Verfasser ist promovierter Erziehungswissenschaftler. Er arbeitet als freier Autor und Übersetzer.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Themen & Autoren
Hartmut Sommer Antijudaismus Antisemitismus Arthur Schopenhauer Bistum Trier Clemens Brentano Heinrich Heine Holocaust Innozenz IV. Ludwig II. Pfarrer und Pastoren Rabbis Victor Hugo William Turner

Weitere Artikel

Die Verbindung zur jüdischen Gemeinde war Franziskus ein Herzensanliegen, davon zeugen zahlreiche Begegnungen seiner Amtszeit.
24.04.2025, 11 Uhr
Mariano de Vedia
Der katholische CDU-Politiker Manuel Hagel will Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden. Könnte aus dem Mann aus dem „Ländle“ das neue Gesicht einer werteorientierten Union werden?
22.10.2025, 20 Uhr
Sebastian Sasse

Kirche

Nur Gottes Wort hören – unkommentiert: Der Podcast „Bibel to go“ bietet täglich die Schriftlesungen an. Dahinter stehen ein Schauspieler und ein Radiosprecher aus Berlin.
16.12.2025, 15 Uhr
Elisabeth Hüffer
Es gibt wieder mehr Ordens- und Priesterberufungen! Unter anderem im Kapuzinerkloster in Salzburg, wo der junge Autor bei Ewigen Gelübden dabei war.
16.12.2025, 11 Uhr
Mihael Iljazovic
Am Beginn der O-Antiphonen: ein Ruf nach Weisheit in unruhigen Zeiten.
17.12.2025, 00 Uhr
Redaktion