Siebzig Meter hoch und hohl wie seine Abbilder aus Schokolade soll sie werden: Eine Statue des heiligen Nikolaus, die eine Vereinigung vermögender Spender und Firmen im süditalienischen Bari errichten will. Dem Christus von Rio de Janeiro, der New Yorker Freiheitsstatue oder dem Hermannsdenkmal bei Detmold gleich, könnte Nikolaus – so das Anliegen – zum Wahrzeichen der Stadt werden und ihren Anspruch bestärken, alleiniger Hüter der Gebeine eines der meistverehrten Heiligen der Christenheit zu sein. Die innere Leere des Standbildes will man durch ein Museum, Konferenzräume und Läden füllen. Es bleibt zu hoffen, dass das Äußere nicht jenem Santa Claus gleichen wird, den die Werbeabteilung eines amerikanischen Limonadenkonzerns in den dreißiger Jahren erfand.
Wallfahrtsort in der Türkei
Der historische Nikolaus – italienisch San Nicola – soll bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts recht weit entfernt von Bari als Bischof in der Hafenstadt Myra in Kleinasien gelebt haben. Belegen lässt sich sein Wirken freilich ebenso wenig wie die mit seinem Namen verbundenen Legenden. Das alte Myra, heute Demre in der türkischen Provinz Antalya, verschwand seither nahezu völlig unter dem vom Demre-Fluss abgelagerten Schwemmland und verlor überdies nach den Einfällen von Arabern und Seldschuken seine Bedeutung. Dennoch teilt Demre heute nicht das Schicksal anderer Orte an der einst im Verlauf der Jahrhunderte von Griechen, Römern, Byzantinern und schließlich von Türken beherrschten Küste: Der Ort ist keine trostlose Ansammlung antiker Ruinen, sondern wird – auch wegen seiner berühmten Felsengräber und des römischen Amphitheaters – noch immer von Reisenden besucht. Demre und insbesondere die zahlreichen Devotionalienhändler in der Stadt verdanken das vornehmlich einer Basilika mit dem Grab des heiligen Nikolaus: einem Wallfahrtsort für katholische, insbesondere jedoch für orthodoxe Pilger.
Verehrt in der Ostkirche
Denn der Heilige wurde und wird besonders im Bereich der Ostkirche so sehr verehrt, dass man ihn im achten Jahrhundert zum Landespatron Russlands erklärte. Zar Alexander I. ließ deshalb 1853 die Basilika kaufen und die Spuren von Erdbeben und Überschwemmungen wenigstens zum Teil beseitigen. Freilich ist es schon allein wegen der zuweilen angespannten russisch-türkischen Beziehungen nie zu einer umfassenden Verbindung der orthodoxen Kirche mit der Stadt gekommen. Derzeit reist nur einmal im Jahr – sofern die türkischen Behörden es erlauben – der Metropolit vom Patriarchat in Istanbul an, um am 6. Dezember eine Messe zu zelebrieren. Während Gläubige aus Italien mit Fähren herüberkommen, ist die Reise für russische Pilger erheblich kostspieliger. Es war deshalb nicht verwunderlich, was im Sommer 2017 geschah: Als damals der goldene Schrein des heiligen Nikolaus nach den gemeinsamen Bitten vonPapst Franziskus und des russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill I. Bari verließ und kurze Zeit in Moskau und Petersburg ausgestellt wurde, warteten insgesamt nahezu drei Millionen Gläubige bis zu zwölf Stunden geduldig darauf, den Schrein für Sekunden zu sehen, zu berühren oder zu küssen.
Gebeine nach Bari gebracht
Weil in der Menge auch Präsident Putin erschien, mag dies Padre Mario Rega von der Kirche San Nicola alla Carità in Neapel ermutigt haben, Putin im vergangenen Juni um Zuwendungen für die Restaurierung schadhafter Fresken in der Kirche zu bitten. Die Kurie sei nicht imstande, alle dafür benötigten Mittel aufzubringen. Vermutlich hatte das Gesuch Erfolg, denn Präsident Putin lässt selten eine Gelegenheit aus, es einem Zaren gleichzutun. Der Spätherbst sah jedenfalls noch eifrig an den Fresken tätige Restauratoren. Wenn hingegen die Nikolaus-Basilika in Myra/Demre weniger Aufmerksamkeit erfährt, dann gibt es dafür mehrere Ursachen. Zum einen mögen türkische Regierungen und Kirchenobere vielleicht noch an einem auf Demre gerichteten Pilgertourismus interessiert sein, aber was darüber hinausgeht, kann für unduldsame Anhänger des Islams nur ein Ärgernis sein. Zum anderen sind die Gebeine des heiligen Nikolaus angesichts der türkischen Bedrohung bereits 1087 von normannischen Seleuten geraubt und nach Bari gebracht worden. Dreihundert Goldstücke hatten sie angeblich den Mönchen für die Reliquie geboten und sie dann kurzerhand entführt, als man ihnen die Herausgabe verweigerte. Nach anderen Überlieferungen brachten die vier Dutzend aus Italien kommenden See- und Kaufleute statt der Goldstücke eine Handramme mit und zerstörten kurzerhand den Sarkophag des Heiligen.
Forderung nach Rückgabe der Reliquien
Acht Jahre später, als Myra während des Ersten Kreuzzuges von Kreuzfahrern erobert wurde, gelangte dann nach Venedig, was Venezianer inzwischen für die wirklichen sterblichen Überreste des Heiligen hielten. Völlige Gewissheit gibt es da nicht, zumal in unserer Zeit türkische Archäologen in einem Hohlraum unter der Kirche ein Skelett entdeckten, von dem sie meinen, es könne Nikolaus sein. Daneben besteht der fortdauernde Anspruch einer türkischen Sankt-Nikolaus-Stiftung, Italien solle der Türkei die in Bari aufbewahrte Reliquie zurückgeben. Der aufgebrochene, leere Sarkophag in der Basilika von Myra/Demre ist sicherlich ein Anblick, der nicht nur nationalistisch gesinnte Türken zornig stimmen kann. Nunmehr streiten ja nicht allein Staaten – letztlich meist zur Freude der Auktionshäuser Christie's und Sotheby's – darüber, wer welches Kulturgut besitzen oder ausstellen darf, sondern es kommt in den westlichen Ländern Europas eine aggressive Lust an kollektiver Schuld auf, vor der weder Mohrenapotheken noch Museumsbestände sicher sind. Wer jedoch in der Türkei reiste, dabei von den für Touristen bestimmten Wegen abwich und sowohl zerstörte christliche Klöster als auch verwüstete Höhlenkirchen sah, in denen man den auf Fresken abgebildeten Heiligen zumindest die Augen ausgekratzt hat, der wird nichts dagegen einwenden, dass der wirkliche oder vermeintliche Nikolaus nunmehr in Bari ruht. Es wird ihn vielleicht auch nicht einmal erregen, dass zum Beispiel Sinterklaas, der niederländische Nikolaus, immer noch mit einem schwarz geschminkten Begleiter (Zwarte Piet) auftritt, obgleich selbst das von sogenannten Aktivisten als Respektlosigkeit und kulturelle Aneignung verleumdet wird.
Brauchtum und Legende
Die Erwähnung eines solchen Begleiters bietet Gelegenheit, Nikolaus' Wirken als Schutzheiliger sowie seine Anwesenheit in Brauchtum und Legenden zu erwähnen. Er gilt ja als Schutzpatron ganzer Völker wie der Russen, Griechen, Serben und Kroaten, von Landschaften wie Lothringen und Süditalien. In Deutschland wurde er übrigens seit der Reformation nicht mehr überall geschätzt. Luther, wie alle Reformatoren ein Gegner der Heiligenverehrung, mochte ihn gar nicht und verdammte den Nikolauskult. Stattdessen sollte das Christkind Sankt Nikolaus verdrängen, aber Unterlagen aus Luthers Haushalt zeigen, dass betreute Kinder, Gesinde, Bekannte, Freunde und Verwandte dann doch am Nikolaustag – und nicht am damals üblich werdenden 25. Dezember – beschenkt wurden. Die fortdauernde Beliebtheit des Heiligen hat dazu geführt, dass nicht nur Kinder, Seeleute und Binnenschiffer, sondern auch Reisende, Pilger, Studenten, Juristen, Bäcker, Metzger, Apotheker, Kaufleute und selbst Pfandleiher, Diebe, Prostituierte und Sträflinge ihn zu ihrem Schutzheiligen erwählten, und sein Patronat über See- und Kaufleute erklärt das Dasein so vieler Nikolaikirchen in Städten, die einst mit der Hanse verbunden waren. Aber das gilt beileibe nicht für alle: In Norddeutschland soll die erste Nikolauskirche bereits vor 800 in Billerbeck geweiht worden sein. Das geschah also nahezu zwei Jahrhunderte vor der Ankunft von Theophanu, der byzantinischen Frau Ottos II., von der vermutet wird, mit ihr sei der Nikolauskult nach Deutschland gelangt.
Der Begleiter des Nikolaus
Um der Erscheinung des gütigen Kinderfreundes, der ausgesetzte Papierschiffchen, im Kamin aufgehängte Socken oder vor die Tür gestellte Schuhe und Stiefel mit Geschenken füllt, auch einen Anspruch von Respekt und Strenge zur Seite zu stellen, erscheint er in vielen Landstrichen mit einschüchternden Begleitern: In Bayern und Österreich ist es der bocksfüßige Krampus, Träger einer Teufelsfratze und mit seinen Ketten rasselnd, auch der eher harmlos wirkende Knecht Ruprecht mit der Rute gehört in diesen Kreis, und in der Schweiz ist es der düster mit dem Samichlaus daherkommende Schmutzli, in Frankreich und der Wallonie der besonders scheußlich ausehende Père Fouettard (etwa: Vater Prügel) oder in den Niederlanden der bereits erwähnte Zwarte Piet. Hinzu kommt eine ganze Horde mit Namen wie Klaubauf, Pelznickel, Rumpelklas, Bellzebub, Hans Trapp und vielen anderen, die in aufwändigen, phantasievollen Kostümen die verschiedensten Landschaften heimsuchen.
Ein grundgütiger Heiliger
Sie alle haben nie das Bild eines grundgütigen Heiligen verdunkeln können, das ein Ergebnis der Legenden ist, die seine Taten schildern. Die beliebteste davon mag vielleicht jene von der jungen Frau sein, die heiraten wollte, doch ihr armer Vater brachte das Geld für die Mitgift nicht auf. Ihre beiden Schwestern beschlossen darauf, sich zu opfern und dieses Geld im Hurenhaus der Stadt zu verdienen. Nikolaus hörte davon und warf während dreier Nächte jeweils eine goldene Kugel in das Haus der Schwestern: genug, um alle drei mit einer Mitgift zu versehen. Seither erscheinen die drei Goldkugeln auf vielen Darstellungen des Heiligen. Häufig schildern die Legenden zudem seine besondere Anteilnahme am Schicksal von Kindern: Da wurden zum Beispiel sowohl ein ertrunkener Knabe als auch geschlachtete Schüler dem Leben wiedergegeben. Bei einer Gelegenheit flog Nikolaus sogar zurück nach Myra/Demre, um einen von türkischen Seeräubern entführten und als Haussklaven missbrauchten Jungen zu ergreifen und in Bari wieder in die Arme seiner Eltern zu legen. Den bedeutenden Barockmaler Luca Giordano muss etwas an dieser Legende besonders berührt haben, denn er ließ sein Gemälde der Luftreise über seiner Gruft anbringen.
Wem gehört nun der heilige Nikolaus? Die Frage ist berechtigt, nachdem Jahrzehnte Weihnachtskommerz eine über Jahrhunderte mit ihm verbundene christliche Tradition hierzulande beinahe ausgelöscht haben. Gehört er den orthodoxen, katholischen oder evangelischen Christen, den geschäftstüchtigen Betreibern einer künftigen Nikolaus-Statue, den Limonadenherstellern und den Supermarktregalen, den Einwohnern von Bari, die ihn seit Jahrhunderten mit einer gewaltigen Prozession ehren, dem Heiligenlexikon, der Geschichtsschreibung oder gar den Türken? Den Kindern sicherlich, doch da gibt es schließlich ebenso die Zuneigung der Seeleute, Binnenschiffer, Kaufleute, Reisenden, Pilger, Studenten, Juristen, Bäcker, Metzger, Apotheker oder Pfandleiher, Diebe, Prostituierten und Sträflinge für den bärtigen, beleibten, hilfreichen Patron im Bischofsgewand mit Mitra, Krummstab, Evangelienbuch und den drei Goldkugeln. Es ist wohl nicht vermessen, wenn gesagt wird, er gehöre allen, die sein Verschwinden wie das seiner Begleiter – mögen sie nun schwarz geschminkt sein oder als heulende Teufel mit Ketten rasseln – als schmerzlichen kulturellen Verlust empfinden würden.
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