Persönlichkeit

Walter Bingham: Mit 99 Jahren noch immer am Mikrofon

Filmreif: Der deutschstämmige Jude Walter Bingham ist Israels ältester aktiver Journalist.
Ältester Radiotalker hat deutsche Wurzeln und lebt in Israel
Foto: Stefanie Järkel/dpa | Walter Bingham, ältester Radio-Talkshow-Host der Welt, in seinem kleinen Studio in seiner Wohnung vor einem Computer.

Es kommt nicht oft vor, dass ein Staatspräsident zur privaten Geburtstagsfeier eines Journalisten kommt. Aber das ließ sich Itzchak Herzog nicht nehmen. Walter Bingham, der seit über drei Dekaden wöchentlich aus Jerusalem sendet, startete Anfang dieses Jahres ins 100. Lebensjahr. Trotz des fast biblischen Alters schaltet er noch jede Woche sein Mikrofon ein und spricht mit fester Stimme seinen „Walter‘s World“-Report, eine 30-minütige Radiosendung, die sich neudeutsch podcast nennt.

Als Wolfgang Billig wurde er 1924 in Karlsruhe geboren, ein Kindertransport nach Wales (Großbritannien) rettete den jüdischen, 14jährigen Jungen; als Soldat der „British Armed Forces“ befreite er 1945 seine deutsche Heimat von der Nazi-Herrschaft; mit 80 Jahren emigrierte er nach Israel und seither bespielt er eine Frequenz auf dem „Arutz7“-Sender aktuell aus Jerusalem. Eine Geschichte, die nur das Leben schreiben kann.

Walter Bingham: Mit Gottes Hilfe gut überlebt

Nach der Radio-Ansage tönt eine sonorige Stimme zur Musik des Film-Hits „Superman“ im feinsten britischen Englisch: “Hallo and welcome … I am delighted …“. Uneingeweihte kommen nicht auf die Idee, dass diese erste Sendung im Januar 2023 von einem Mann recherchiert, aufgezeichnet und gesprochen wird, der auf die 100 zusteuert. Damit ist Walter Bingham unbestritten der älteste aktive Journalist Israels und vermutlich auch der ganzen Welt. Er schreibt und berichtet aus Jerusalem und sendet im Wochen-Rhythmus. Seine Stimme ist ungebrochen, obwohl in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach versucht wurde, ihn zum Schweigen zu bringen. „Zum Glück und mit Gottes Hilfe“, sagt der heute streng gläubige Jude, „habe ich das alles ganz gut überlebt.“

Als Sohn jüdisch-galizianischer Eltern, deren Familie wegen andauernder Progrome um die Jahrhundertwende Polen in Richtung Westen verlassen hatte, wuchs Wolfgang in geordneten Verhältnissen im badischen Karlsruhe auf. Sein Vater betrieb einen Einzelhandel; es fehlte zu Hause an nichts. Wolfgang ging gern zur Schule und spielte mit seinen Freunden Fußball. Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 wurde es jedoch ungemütlich. Der wissenshungrige Junge durfte in der Schule nicht mehr gut benotet werden, denn er war Jude und wurde von der ersten Reihe in seinem Klassenzimmer nach hinten versetzt. In den Wochen vor der „Reichskristallnacht“ im November 1938 begann die Bedrohung. Die Polnisch-Stämmigen verloren per Anordnung der NSDAP ihre deutsche Staatsbürgerschaft. Sein Vater wurde nachts abgeholt und gewaltsam nach Polen abgeschoben. Zuerst gegen den Willen der Regierung in Warschau. Wolfgang hat seinen Vater nie mehr wiedergesehen.

Seine Mutter erkannte die Gefahr

Sophie, seine Mutter, erkannte die Gefahr rechtzeitig und schickte ihren 14jährigen Sohn zur jüdischen Schule nach Mannheim. Dort bereitete ein „Fräulein Fechtner“ die Auswahl für einen Kindertransport vor. Walter erinnert sich heute nicht mehr daran, was er vor drei Tagen gegessen hat, aber der 10. November 1938, 3.22 Uhr hat sich in sein Gedächtnis eingegraben. An diesem Nachmittag brachte ihn seine Mutter im Mannheimer Bahnhof zu einem als international gekennzeichneten Zug, der hunderte jüdischer Kinder nach Holland brachte. Für die Mutter der schwerste Gang ihres Lebens. Sie wusste nicht, ob sie ihr Kind je wiedersehen würde. Von Den Haag wurden die Kinder mit einer Fähre nach England gebracht. Um den Hals trug Wolfgang ein Band, an dem ein Stück Pappkarton hing: „Wolfgang Billig unaccompanied minor“ (unbegleiteter Minderjähriger). Walter erinnert sich an ein Schloss in Wales, das von 1939 an für Jahre sein neues Zuhause werden sollte. Er arbeitete in der Landwirtschaft – und weiß seither alles über Kartoffelanbau und Karottenernte. Das Wichtigste wiederholt er mehrfach: er bekam dreimal täglich etwas zu essen und hatte mit dutzenden Kindern in einem Schlafsaal ein Dach über dem Kopf.

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Ein neuer Name

Dann kam der Zweite Weltkrieg auch nach England und Wolfgang wurde in eine Uniform gesteckt mit der Aufforderung, seinen deutschen Namen noch am gleichen Tag zu ändern. Wolfgang schaute ins Londoner Telefonbuch und stieß auf „Walter Bingham“. So heißt er seit jenem Tag, als er einberufen wurde, um Großbritannien zu verteidigen.

Und wieder stand er an einer Lebenskreuzung, die über Leben oder Tod entscheiden sollte. Er wurde zum Glück „driver“, zum Fahrer für alle möglichen Militär-Fahrzeuge, ausgebildet und landete mit den Alliierten Streitkräften in der französischen Normandie. Irgendwann im Frühjahr 1945 fuhr „driver Walter“ in seiner khakifarbenen englischen Uniform in Hamburg ein und galt seither als Teil einer Befreiungsarmee, die in seiner alten Heimat Deutschland die Nationalsozialisten vertrieben hat. Es begann die Suche nach seiner Mutter, die er nach einigen Wochen auch fand – in Schweden. Sie hatte mehrere Arbeitslager im Baltikum überlebt, bevor sie im Sommer 1945 ihren erwachsenen Sohn Walter, den sie als Kind in Mannheim mit einem Stoßgebet zum Himmel dem Kindertransport anvertraut hatte, wieder in die Arme schließen konnte.

Respekt erschrieben

Walter legte seine Uniform in London als „Sergeant“ ab und versuchte, sein ziviles Leben zu ordnen. Geld für eine Ausbildung gab es nicht und so wurde er Unternehmer und versuchte sich als Künstler. Dann begann er unter anderem für die BBC zu schreiben. Er gründete eine Familie, wurde Vater einer Tochter, aber sein Blick war stets in Richtung Israel gerichtet. Erst 2004 fasste er den unwiderruflichen Entschluss, nach Israel zu gehen, und das bedeutete für ihn, einen Wohnsitz in Jerusalem zu finden. Seither ist Walter mit seiner typischen Schirmmütze auf dem inzwischen grauen Haupt und seinem modernen Aufzeichnungsgerät mit Mikrofon auf fast allen politischen und kulturellen Veranstaltungen, die für die Presse von Interesse sind, anzutreffen. Stets in der ersten Reihe und durch kein Gedränge oder hektisches Geschiebe zu entmutigen.

Anlässlich seines 99. Geburtstages und des 35-minütigen Besuches des israelischen Staatspräsidenten wird Walter in seiner Sendung ausnahmsweise selbst zum Thema. Seine Generation habe im Zweiten Weltkrieg die Nazis erfolgreich bekämpft und die Welt gerettet, sagt Staatspräsident Herzog verbunden mit besten Glückwünschen. Mit „Walter‘s World“-Sendungen und Zeitungsbeiträgen in der „Jerusalem Post“ hat sich der Neu-Israeli mit badischen Wurzeln Respekt erschrieben, auch bei jenen Parteigängern, die nicht seiner politischen Meinung sind. Frankreich hat ihn übrigens 2018 mit der höchsten Auszeichnung der „Légion d'honneur“ belohnt.

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