Seltsame Visionen

Die Mormonen haben einen neuen Chef. Jung ist er nicht, aber auf Linie mit den Ideen des Gründers. Von Burkhardt Gorissen
Monson neuer Mormonen-Präsident
Foto: dpa | Neue Kirche mit Jesus? Mormonen-Präsident Thomas S. Monson.

Die „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ hat einen neuen Präsidenten, nämlich Russell M. Nelson. Er folgt auf Thomas S. Monson, der am 2. Januar im Alter von 90 Jahren verstorben ist. Der 93-jährige Nelson, ein international anerkannter Herzchirurg, wird als 17. Präsident die mormonische Gemeinschaft anführen, der weltweit mehr als 16 Millionen Gläubige angehören. Schon zuvor wurde er, wie die Agenturen melden, in etliche Leitungspositionen berufen.

Dass ein Mann seines Alters gewählt wurde, hat Tradition bei der in den Vereinigten Staaten vorwiegend unter dem Kürzel „LDS Church“ bekannten Gemeinschaft. Noch heute umgibt die 1830 von Joseph Smith begründete Vereinigung ein Schleier geheimnisumwitterter Rätselhaftigkeit. Die anfänglich praktizierte Polygamie gaben die Mitglieder erst nach diversen Streitigkeiten, die zu Verwerfungen und Abspaltungen führten, im Jahr 1890 auf.

Mitunter erscheint der Mormonenkult als geniale Marketingidee aus den Flegeljahren des Wilden Westens. Oder nennt man ihn besser die typischste Religion eines Erdteils, der sich bescheiden als „God's own country“ charakterisiert? Nirgendwo anders als in den damals im Entstehen begriffenen Vereinigten Staaten wäre ein solches Projekt zur Blüte gereift. Die Siedler, vorwiegend enttäuschte Europa-Flüchtlinge, wurzelten geistig noch in der alten Welt. Doch das schachbrettartig angelegte Staatengebilde sollte mehr sein als ein am Reißbrett der Neue-Welt-Designer konzipiertes Projekt. Die Menschenrechte und die Unabhängigkeitserklärung setzten erste Ausrufungszeichen.

Doch zur Staatsbildung brauchte es neben der verbindenden politischen Idee Identifikationsmerkmale, und das in einer Zeit, in der es nicht einmal jene Dampfrösser gab, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts auf schier endlos erscheinenden Strecken miteinander verkettete, wie ein eisernes Band. Die Staaten der Anfangsjahre befanden sich mitten im Stadium eines Selbstfindungsprozesses, wo es Fiktionen, Legenden und Visionen braucht. Mit seiner Mormonen-Idee besetzte Joseph Smith diese Marktlücke. Die Pioniere folgten weniger dem mönchischen „ora et labora“, als dem calvinistischen Prädestinationsethos, das eine der Grundlagen des aufkeimenden Kapitalismus werden sollte. Nur der Erwählte konnte beruflich erfolgreich sein und er vermehrte durch harte Arbeit Gottes Ruhm. „Gods own country“ war immer auch ein von Menschenhand geschaffenes Stück Erde.

Ein Mix aus der Bibel und dem ägyptischen Totenbuch

Diese selbstbewusste Gewissheit sickerte schon früh in das kollektive Bewusstsein Amerikas ein. Daher kann nicht verwundern, dass sich die damals so traditionsarme Gesellschaft auf die Suche nach einer adeligen Genealogie macht. Joseph Smith schlug in diese Kerbe. Die Inhalte seines Mormonenglaubens sind zwar an christliche Glaubenslehren angelehnt, doch so unterschiedlich – vor allem in der Ablehnung der Dreifaltigkeitslehre –, dass die Mormonen sich nicht einmal selbst als Christen bezeichnen. Fast Hollywood-like kommt ihre Homestory daher: Laut Visionär Smith teilten ihm Gott und Jesus 1820 in einem Wald bei New York mit, alle bestehenden christlichen Bekenntnisse wären im Unrecht. Sein Auftrag lautete deshalb, eine neue Kirche aufzubauen. Ein Engel namens Moroni habe ihm Hinweise zur Entdeckung mysteriöser „Goldener Platten“ nahe eines Dorfes bei New York gegeben. Die Sache steigert sich immer kruder ins absurd-geheimnisvolle, wenn die in Geheimschrift verfassten Texte der selbsternannte Prophet lediglich mit einer speziellen Brille übersetzen kann, die praktischerweise aber himmlischerseits mitgeliefert wurde. Angeblich. Das Geheimnis auf den „Goldenen Platten“ bildet seither die Substanz, die sich vor allem im „Buch Mormon“ niederschlägt. Bei diesem wiederum soll es sich um ein lange verlorenes, in der Bibel nicht enthaltenes Evangelium handeln. Berichtet wird darin von Hebräern, die nach dem Turmbau zu Babel flüchteten und zu den Ureinwohnern Amerikas wurden. Jesus sei nach seiner Auferstehung just dort erschienen und habe das Buch Mormon hinterlassen.

Damit nicht genug. Nach diesem honetten Geschehen soll es zu einem Kampf zwischen Gottesgläubigen und Ungläubigen gekommen sein. Letztere trugen den Sieg davon. Nach Lesart der Mormonen folgte die Strafe auf dem Fuß: Ihre Haut wurde dunkel – so entstanden die Indianer. Politisch korrekt ist das nicht, und nicht nur dieser Teil des mormonischen Schöpfungsberichtes ist gewöhnungsbedürftig. Gott wird nicht als Schöpfer angesehen. Die Materie gilt als äonenalte Ursubstanz, sozusagen ein Urgrund des Seins, dem Gott nach Mormonensicht lediglich ein Ordnungssystem verlieh. Gott selbst entwickelte sich aus einem normalen Menschen zum höchsten Wesen. Deshalb kann der Mormone am Ende seiner rituellen Erhebungen auch selbst zu einer Gottheit werden.

Nicht genug des wildesten Tohuwabohus. 1842 ließ der selbsternannte Prophet das „Buch Abraham“ publizieren. Dabei handelte es sich um eine selbstverfertigte Übersetzung einiger ägyptischer Papyrusrollen, die Smith in Kirtland erworben hatte. Obschon keineswegs in der Lage, ägyptische Hieroglyphen zu entziffern, erklärte er selbstbewusst, die Schriften bezeugten das Wirken Abrahams. Tatsächlich handelte es sich bei den Fragmenten um eine Abschrift des „Buchs vom Atmen“, einer Kurzfassung des Ägyptischen Totenbuchs. So eng liegen manchmal Dichtung und Wahrheit beieinander.

Smith Auslassungen erinnert denn auch eher an gnostische Verkrümmungen und diesbezüglich an den freimaurerischen Großen Baumeister der Welten. Kein Wunder, Smith wurde am 15. März 1842 in eine Freimaurerloge aufgenommen. Gleich am nächsten Tag stieg er in den 2. und 3. Grad, den höchsten Johannesgrad, auf. Auch andere führende Anhänger des neuen Evangeliums gehörten den Freimaurern an, unter ihnen sein Bruder Hyrum und sein Nachfolger im Präsidentenamt, Brigham Young. Zwei Monate nach seiner Aufnahme führte Visionär Joseph das Endowment ein. Das ganze Ritual war an der Freimaurerei orientiert. Die Kleidung zierten Winkelmaß und Zirkel. Männer und Frauen trugen Schurz. Zum Höhepunkt erschien zwischen zwei von Schlangen umwundenen Säulen eine „luziferische Person“ in Zylinder und Maurerschurz. Alle Zeichen, Symbole und Handgriffe nichts als eine einzige Analogie zum masonischen Treiben. Smith behauptete kurzerhand, die Freimaurerei sei eine Kopie der echten Religion – also seiner.

Heute wird das Endowment vorwiegend während eines Rituals lediglich als Film gezeigt. Mehr vertragen wohl nur die höheren Chargen. Immerhin gehören die „Heiligen der letzten Tage“ zur viertstärksten Glaubensgemeinschaft der USA. Das ist nicht zuletzt ihrem ungebrochenen missionarischen Ehrgeiz zu verdanken. Aber auch ihrer gesellschaftspolitischen Ausrichtung. Die Mormonen stehen für konservative Ideale, das wird sich auch unter ihrem neuen Präsidenten Russell M. Nelson nicht ändern. Unabhängig davon, wie man ihren Kultus bewertet, von ihrem Mut, auch unpopuläre Wertvorstellungen in unserer Zeit zu verteidigen, kann mancher auf links gedrehte Herz-Jesu-Sozialist im alten Europa lernen.

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