In Irpin stecken Splitter russischer Minen sogar in der Ikonostase der griechisch-katholischen Kirche. Putins Truppen beschossen hier alles: Wohnsiedlungen, Einfamilienhäuser, das Krankenhaus, die Schule und eben auch die Kirche. Der Nachbarort Butscha fiel ihnen kampflos in die Hände. Tote Zivilisten, teilweise mit gefesselten Händen, lagen auf der Straße, andere waren notdürftig in ein Massengrab geworfen worden, bevor die Ukrainer beide Vorstädte Kiews befreiten. Butscha und Irpin gibt es in der Ukraine jetzt hundertfach: Was Zeitzeugen aus den russisch okkupierten Gebieten zu erzählen wissen, lässt in Abgründe des Grauens blicken.
Im Marienwallfahrtsort Sarwanyzja, wohin früher 1, 5 Millionen Pilger pro Jahr strömten, sind jetzt 150 Flüchtlinge aus den Frontgebieten untergebracht. Die griechisch-katholischen Priester versorgen sie – kostenfrei – mit allem Nötigen. Eine Lehrerin, die mit ihrem Mann aus Kramatorsk floh, erzählt mir, wie die russischen Truppen sogar den Bahnhof und die Evakuierungszüge beschossen. Zwei Tage nach ihrer Flucht habe eine russische Rakete am Bahnhof von Kramatorsk 50 Menschen getötet, vor allem Frauen und Kinder, die in den Evakuierungszug drängten. Heimkehren werde sie erst nach dem Sieg der Ukraine. „Das ist unsere Heimat!“, sagt die Frau. „Wir werden dieses Land bis zum letzten Blutstropfen verteidigen“, ergänzt ihr eher wortkarger Mann, ein pensionierter Stahlarbeiter.
Tagelang im Keller verborgen
Eine junge Frau, die mit ihrem dreijährigen, offensichtlich traumatisierten Sohn aus Charkiw floh, berichtet vom russischen Raketenterror. Sie wohnte in der Nähe der Straßenbahnzentrale. „Hier wurde alles beschossen. Fenster splitterten, Panik brach aus. Niemand konnte sich diesen Krieg vorstellen.“ Tagelang verbarg sie sich im Keller, ohne Strom, Wasser und Heizung. Dann wagte sie die Flucht: Im 6-er Abteil des Evakuierungszugs drängten sich zwölf Personen. Die Herzlichkeit, mit der sie von den Priestern in Sarwanyzja aufgenommen wurde, sei für sie fast ein Schock gewesen. Beim Verabschieden greift sie nach meinem Arm: „Ohne Hilfe aus dem Westen können wir nicht überleben! Wir wären den Russen ausgeliefert.“
Was das bedeuten würde, schildert beim Gespräch in Iwano-Frankiwsk der Donezker griechisch-katholische Bischöfe Maksym Ryabukha: „Die Geschichten, die wir von ehemaligen Gefangenen hören, sind so schrecklich, dass der Gedanke an Versöhnung kaum aufkommen kann“, sagt er traurig. Manche der von den russischen Okkupanten Verhafteten wurden monatelang nackt gehalten, gefoltert und vielfachen Demütigungen ausgesetzt. „Russland versucht, die Menschen zu brechen.“ In Mariupol sei eine Rakete auf eine Caritas-Einrichtung abgefeuert worden, wobei viele Menschen ums Leben kamen. „Es werden Menschen nach Russland deportiert, und es wird viel gestohlen, sogar die Steckdosen aus den Häusern.“ Wie viele Menschen zwangsweise nach Russland verschleppt wurden, weiß niemand. Experten sprechen von mehr als zwei Millionen deportierten Zivilisten.
Lieber sterben, als aufgeben
„Die Stimmung in der Bevölkerung ist: Wir werden lieber sterben als aufgeben“, sagt der junge Bischöfe Maksym. „Putin hatte erwartet, dass gerade die Älteren seine Soldaten mit Blumen empfangen würden. Durch diesen Krieg jedoch haben wir alle verstanden, dass Putin nicht die Krim oder den Donbas rauben will. Vielmehr ist sein Ziel, das ukrainische Volk zu vernichten.“ Deshalb werde in der Ukraine gar nicht darüber diskutiert, einen Teil des Staatsgebietes aufzugeben. Was ihm Hoffnung gebe, will ich wissen. Seine Antwort: „Der Teufel ist erfinderisch, aber Gott ist allmächtig!“
Erzbischof Vasyl Tutschapez aus Charkiw bezeichnet die humanitäre Lage in seiner Stadt „sehr schwierig“, denn immer mehr Menschen fliehen aus den Grenz- und Kampfgebieten in die ohnedies notleidende Stadt. Sie brauchen Lebensmittel, Medikamente, warme Kleidung und Decken. Der Erzbischof, dessen Residenz in Trümmer geschossen wurde, machte seine Kathedrale zum Umschlagplatz humanitärer Hilfe.
In Lemberg (Lviv) treffe ich die 27-jährige Lisa aus Prymorsk im Oblast Saporischja. Sie ist im siebten Monat schwanger und erzählt von den zwei Wochen, die sie angesichts des russischen Raketenterrors auf engstem Raum in einem Keller verbrachte. „Ins Freie zu gehen, war extrem gefährlich. Die Männer hielten Tag und Nacht Wache – falls die Russen vorrücken.“ Dann wagte sie, bereits völlig erschöpft, die Flucht in die Westukraine. Als die Russen begannen, willkürlich Menschen zu verhaften, flohen auch ihre Eltern. „Alle Menschen lebten mit der Angst“, erinnert sich Lisa. Heute hilft die gelernte Architektin im Lemberger „Haus der Barmherzigkeit“, einer katholischen Einrichtung, jenen Menschen, die noch schwerer traumatisiert sind als sie selbst. „Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich die Traumatisierten besser verstehen“, meint sie.
80 Prozent der Ukrainer sind traumatisiert
Immer wieder sagen Gesprächspartner, rund 80 Prozent der Ukrainer – nicht nur jene in den okkupierten Gebieten, an der Front und die Binnenflüchtlinge – seien traumatisiert. Die Schulkinder müssen bei Luftalarm in die Schutzräume, oft mehrfach täglich. Andere müssen den Verlust naher Angehöriger verarbeiten. Wie der sechsjährige Ustin, den ich in der Lemberger Garnisonskirche befrage. Sein Vater starb an der Front. Er hält die Hand der Mutter ganz fest. Wenn sie traurig sei, müsse er lustige Geschichten erzählen – „wie Vater früher“. Seine 15-jährige Schwester konnte nach dem Tod des Vaters monatelang überhaupt nicht sprechen. Jetzt plant sie, in die Militärakademie einzutreten, um für ihre Heimat zu kämpfen – wie der Vater. „Mein Mann würde das sicher unterstützen“, sagt Olha, die Mutter der beiden. Zunächst haderte Olha mit Gott, doch in einer Gruppe von Witwen und bei den Priestern der griechisch-katholischen Kirche habe sie Trost gefunden. „So kam ich wieder auf die Beine und fand zurück zum Glauben“, sagt sie. „Die Nähe der Kirche spüren wir immer.“ Militärkaplan Yuriy ermahnt den Sechsjährigen lächelnd: „Du musst deiner Mama helfen!“ Der Kleine antwortet: „Ja! Und auch wenn Ihr etwas braucht – ruft einfach an.“ Die Aufgabe der Kirche sei es, Wunden zu heilen, sagt der Lemberger Bischöfe Volodymyr Hrutsa. Humanitär, aber auch mit dem Schatz der Sakramente. „Die Kirche hilft – und die Menschen kommen!“ Darunter sind viele, die sich früher als orthodox identifizierten.
„Sie brauchen jemanden, dem sie vertrauen können“
In der Kiewer Kathedrale stellen einfache Menschen Grundnahrungsmittel ab, die der Priester segnet, um sie dann an jene weiterzureichen, die sie noch nötiger haben. Nebenan erklärt Caritas-Direktor Andriy Nahirnjak, traumatisiert seien vor allem jene, die Bombardierungen erlebten, Verwandte verloren, ihre Häuser verlassen mussten – und die Kinder. Die Caritas errichtet nun Rückzugsräume für Kinder und organisiert eine psychische Begleitung für ihre Eltern. „Damit können wir nicht bis zum Kriegsende warten.“ Gerührt erzählt der Caritas-Direktor, dass die Ukraine aus der ganzen Welt humanitäre Hilfe erhalte, sogar aus Somalia! Darum habe auch die ukrainische Caritas jetzt für die Erdbebenopfer in Syrien und der Türkei Geld gespendet. Vielen Menschen falle es schwer, zu akzeptieren, dass sie selbst traumatisiert sind, sagt das Oberhaupt der griechisch-katholischen Kirche, Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk im „Tagespost“-Interview. „Sie brauchen jemanden, dem sie vertrauen können. Die Kirche ist ein vertrauenswürdiger Ort der Beziehungen.“ Darum würden nun alle Priester darin trainiert, zu erkennen, welche Form der Unterstützung jemand braucht. In allen griechisch-katholischen Diözesen werden Pastoralzentren für die Heilung von Wunden eingerichtet. Und diese Herausforderung, das wissen alle, wird nicht mit dem Krieg enden.
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