Bishops Castle ist eine malerische kleine Stadt. Mitten im beschaulich ländlichen Shropshire gelegen, entschleunigt sich der Schritt des Besuchers ganz automatisch inmitten der hübschen Häuser rund um die Poesie-Apotheke von Deborah Alma, einem Rückzugsort inmitten des hektischen Alltags, der heute so viele Menschen krank macht. Diejenigen, die hierher kommen, sind in der Tat auf der Suche nach einem Rezept. Zu Recht. Ihre Ängste, die depressiven Verstimmungen, das Gefühl, nur ein Rädchen im Getriebe des eigenen Lebens geworden zu sein, werden hier auf wirksame Weise behandelt. Allerdings auf eine, die höchst ungewöhnlich ist. Denn Deborah Alma verschreibt ihnen keine Pillen.
Die Heilkunde, auf der die Behandlung der wachsenden Schar basiert, die die Poesie-Pharmazeutin aufsuchen, basiert auf dem heilsamen Reichtum der Worte von Dichtern. Dass der Bedarf an Salben für die Wunden der Seele in den vergangenen Jahren massiv angestiegen ist, belegen die Zahlen eindrucksvoll. In Großbritannien, wo Deborah Alma ihre Poesie-Apotheke betreibt, in der ihre „Patienten“ einen heilsamen Rückzugsort finden, in dem die Wortgewebe von John, Emily Dickinson oder Alfred Tennyson sich wie ein schützender Verband auf die schmerzenden Punkte legen, nehmen inzwischen rund 8,3 Millionen Menschen Antidepressiva. Bei einer Einwohnerzahl von in diesem Jahr rund 67,7 Millionen Menschen sind dies mehr als zehn Prozent. Eine alarmierende Anzahl und ein klarer Hinweis darauf, dass die Sehnsucht nach Heilung immens und die Wahl der Mittel nicht immer angemessen sind. Der Griff zum Rezeptblock erfolgt zu schnell und die prompte Verschreibung der chemischen Keule richtet auf lange Sicht bei vielen eher Schaden an als Nutzen zu erbringen. Denn wer einen Elternteil begraben musste, sich nun Sorgen macht, wie der Hinterbliebene zurechtkommt, eine Scheidung hinter sich hat oder beruflich einen neuen Anfang wagen soll und dessen Nervenkostüm durch Pandemie, Krieg und den offenkundigen Zerfall menschlicher Werte an vielen Stellen dünn geworden ist, braucht in der Regel eher eine positive Motivation. „Treffende Worte haben die Kraft, die Tumore des bedrängten Geistes zu heilen“, schrieb John Milton schon im Jahr 1671. Er wusste, wovon er sprach, denn das Leben des Dichters von „Paradise lost“ verlief keineswegs stressfrei. Er suchte und fand in seiner poetischen Arbeit Heilung, die durch das Lesen seiner Werke auch anderen zuteil wird.
Heilende Gedichte
Dasselbe Rezept wendet auch Deborah Alma an. Die Anfänge ihrer Poesie-Apotheke reichen bis in das Jahr 2011 zurück. Damals begann sie, in der Hospizarbeit und im Umgang mit Demenzpatienten, mit Gedichten zu arbeiten. Ihre Idee ist brillant. Denn sie verwandelte die Gedanken und Erinnerungen, die die Patienten mit ihr teilten, in persönliche Gedichte. Deren heilende Kraft war so offensichtlich, dass sie begann, auch in Schulen, in Büchereien und auf Festivals als Emergency Poet in Erscheinung zu treten und Gedichte als Heilmittel in Krisen, als Rituale, die neue Wege öffnen, als Trost und neue Form alternativer Medizin anzubieten. 2019 eröffnete sie ihre Poesie-Apotheke in Bishops Castle und schon bald wird es eine zweite in der englischen Hauptstadt London geben. „Poesie hilft auf vielerlei Weise“, sagt Alma, die bereits mehrere Gedichtbände herausgegeben hat, die inzwischen an zahlreichen Orten als Grundlage für die Gestaltung von Hochzeiten und Trauerfeiern genutzt werden. Die zauberhafte Wirkung von Gedichten verdankt die Poesie der konzentrierten Kraft der Worte, die in der Edelsteinen gleichenden Lyrik gleichsam verdichtet werden und den Leser so vermittels der in ihnen enthaltenen emotionalen Kraft zu wandeln vermögen.
Eine Atmosphäre der Rückschau
Wer die Poesie-Apotheke von Deborah Alma betritt, taucht sofort in die besondere Atmosphäre des Ortes ein. Die alten Mahagoni-Regale hinter der Theke sind gefüllt mit Gedichtanthologien. Medizinflaschen mit der Aufschrift „Poemcetamol Tabletten“ und „Remembered Pills“ rufen ebenso ein Lächeln hervor wie die Dichtertassen im benachbarten Café, das zur Ausstattung der Poesie-Apotheke gehört. Vor die Verschreibung hat die Besitzerin und Ideengeberin des Erfolgsprojektes aber das Gespräch gesetzt. In ihrem Beratungsraum mit den alten Schreibmaschinen und den vielen Gedichtbänden lässt sie sich ganz in Ruhe mit ihren „Patienten“ nieder und versetzt sie in eine Atmosphäre der Rückschau. „An welchem schönen Ort haben Sie das letzte Mal befreit ausgeatmet und sich ganz entspannt?“, „Was war Ihr liebstes Kinderbuch?“, Welches Buch mochten Sie als Erwachsener besonders gern?“, „Wo ist der perfekte Ort zum Lesen?“. Fragt man diejenigen, die eine Beratung bei Deborah Alma wahrgenommen haben, erzählen sie, dass diese Fragen wie eine sanfte Massage für den durch so vieles belasteten Geist wirken. Deborah Alma, die eine Zeit lang Creative Writing an der Keele Universität unterrichtet hat, wählt diesen Ansatz ganz bewusst. „Das, was ich hier tue, ist keine Psychotherapie“, betont sie. Und darum setzt sie auch nicht bei den Ängsten ihrer Patienten an. Das würde nur zu schnell die Gefahr bergen, die gerufenen Geister nicht mehr loszuwerden.
Sanfte Verstärker
Stattdessen versetzt Alma ihre Kunden sanft in eine positive Grundstimmung. Sie weckt gewissermaßen die ein wenig verschütteten Selbstheilungskräfte, die die Wirkung der von ihr „verordneten“ Gedichte sanft, aber wirkmächtig verstärken. Nach etwa 30 Minuten Gespräch erhält der Kunde eine Reihe von ausgedruckten Gedichten und eine die liebevolle persönliche Atmosphäre wirkungsvoll verstärkende handgeschriebene Anleitung zur Anwendung der Medizin. „Nehmen Sie die Gedichte so oft wie nötig“, steht dort. „Mit einem Glas Bier, alleine, aber in der Nähe anderer Menschen“. Auch Tee aus frisch im Garten wachsenden Minzeblättern wird in der Poesie-Apotheke in Bishops Castle serviert. Die Kunden können sich also gleich an Ort und Stelle zurückziehen und jeder für sich, aber zugleich in guter Gesellschaft die heilende Kraft der Wortgewebe erproben. Natürlich wird das Lesen eines Gedichtes die eigene Lebenslage nicht von jetzt auf gleich von Grund auf ändern können. Aber die Beschäftigung mit der in der Poesie verdichteten Wirklichkeit entfaltet ihre Wirkung wie jedes gute Ritual sanft und hat eine langfristige performative Wirkung. Wer nicht nach England zur Poesie-Pharmazeutin Deborah Alma reisen kann, findet auch hierzulande viele kostengünstige und schöne Anthologien oder greift vielleicht gleich zum ganzheitlich heilkräftigen Buch der Psalmen oder zum Hohenlied, dessen ergreifende Gedichte die Seele dazu verlocken, in den inneren Garten zu gehen, wo sie Gott, ihrem geliebten Bräutigam, begegnet.
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