Wer regelmäßig in Buchhandlungen ein- und ausgeht, wird in den vergangenen Jahren eine Veränderung festgestellt haben: Zunehmend übernimmt die Spezies der Schmuckausgabe die Regale und liefert sich einen erbitterten Kampf mit den Paperbacks. Schmuckausgaben sind hochwertige Hardcovers mit ästhetischen Einbänden, Illustrationen und häufig sogar Lesebändchen, Goldschnitt, Pop-ups und anderen Schmankerln für Bücherwürmer und Leseratten, die trotz ihrer stolzen Preise immer mehr Menschen zum Portemonnaie greifen lassen. Warum ist das so? Welche Vor- und Nachteile hat diese Bewegung? Woher kommt sie und was werden ihre Folgen sein?
Ernest Hemingway sagte einmal, „Das Merkwürdige an der Zukunft ist wohl die Vorstellung, dass man unsere Zeit einmal die gute alte Zeit nennen wird.“ Heute ist dieser Gedanke besonders aberwitzig, denn wir befinden uns in einer Zeit des ständigen Rückblicks. Remakes beliebter Filme, Adaptionen literarischer Klassiker und historische Fiktion bestimmen zunehmend den Inhalt unseres Medienkonsums (neben Krimis, versteht sich, die sich momentan allergrößter Beliebtheit erfreuen). Auch im Bereich der Mode macht sich dies bemerkbar, in der Trends häufig mit der Ästhetik vergangener Jahrhunderte korrespondieren und einzelne Artikel bewusst manipuliert werden, damit sie alt wirken – so als hätten sie bereits eine Lebensgeschichte hinter sich.
Die Gründe dafür sind zum einen in der rasanten technologischen Entwicklung der Menschheit zu vermuten, die mit einer spirituellen Verarmung einhergeht, und zum anderen mit einer zunehmenden Isolation und Individualisierung des Einzelnen in der Gesellschaft, die einer Entwurzelung gleichkommt. „Das Kind in dir muss Heimat finden“, bringt es die Autorin Stefanie Stahl trefflich auf den Punkt, und für viele ist diese Heimat unsere Geschichte. Auch wenn der Used-Look nicht häufig auf Bücher angewandt wird, ist der Aspekt der Vergangenheit doch häufig essenziell für den Verkaufserfolg der Schmuckausgabe. Die Coverdesigns wirken oft historisch, selbst wenn es sich um moderne Schriften handelt. Dabei ist jedoch zu beachten, dass dies keine Reproduktionen alter Bücher sind, sondern die Vergangenheit aus moderner Sicht dargestellt, also „gefiltert“, wird, denn trotz der allgemeinen Faszination von der Geschichte sind die Geschmäcker des modernen Käufers oft gar nicht vollständig mit ihr vereinbar. Ein Beispiel: Das 19. Jahrhundert erlebt momentan einen Boom, wie der nachhaltige Erfolg von etwa Downton Abbey oder Bridgerton zeigen. Die Ästhetik dieser Zeit bestand kurz gesagt aus der gehäuften Darstellung so vieler schmückender und kurioser Gegenstände wie nur irgend möglich. So war die Wohnung eines Sherlock Holmes das physische Pendant zum Wimmelbild. Das würde im heute gepflegten Minimalismus als zu chaotisch und überfüllt wirken. Die historisch anmutende Schmuckausgabe ist also viel mehr ein Produkt ihrer Zeit als der Vergangenheit – was den Anspruch an die Geschichte als seelische Heimat ad absurdum führt.
Warum ist das wichtig? Weil es zeigt, worum es in erster Linie beim Design einer Schmuckausgabe geht: Nämlich nicht unbedingt um das Buch oder die Ära, in der es entstanden ist, nicht einmal um Geschichte oder Ästhetik überhaupt, sondern schlicht und ergreifend darum, dass beim Käufer ein ganz bestimmtes Gefühl ausgelöst wird. Ähnlich sieht es bei der Innengestaltung aus. Luxuriöse Illustrationen und Einlegeblätter, wie zum Beispiel der Druck eines handschriftlichen Briefes von Mr. Darcy höchst persönlich oder weihnachtliche Rezepte im Märchenbuch, werten die Ausgaben zusätzlich auf. Sogar Pop-ups, Drehschreiben und andere Spielereien erfreuen sich, wie die Reihe des MinaLima-Verlags zeigt, größten Zuspruchs. Zu vermerken ist dabei die Tatsache, dass diese Produkte trotzdem selten, wenn überhaupt auf Kinder ausgerichtet sind. In der Buchhandlung sind die Schmuckausgaben von MinaLima oder Coppenrath nicht in der Kindersektion zu finden, sondern im Bereich „self-care“ oder „Geschenke“, teils auch versteckt bei den englischen Büchern. Darüber hinaus sind sie inhaltlich nicht unbedingt auf Kinder ausgerichtet. So sind etwa die Werke von Jane Austen, Leo Tolstoi oder der Brontë-Geschwister wohl eher Autoren, die von Erwachsenen gelesen werden. Und trotzdem sind sie Verkaufsschlager.
Gleichzeitig wird das „normale“ gebundene Buch mehr und mehr vom Markt verdrängt. So drangen kürzlich Information an die Presse, dass der große amerikanische Buchverkäufer Barnes and Nobles, der Mitbestimmer der Trends ist, die in unseren Buchhandlungen landen, demnächst eine große Anzahl von Hardcovers komplett aus dem Sortiment nehmen wird – ein Leck, dass in der Geschäftsführung zu einiger Peinlichkeit führte, denn unter den Betroffenen waren zum Teil auch Bestsellerautoren, während literarisch eher unbekannte und qualitativ teils weniger ansprechende Bücher sogar als Schmuckausgaben veröffentlicht werden sollten. Als Erklärung wurden Kostengründe angeführt, eine Rechnung, die schon jetzt nicht aufzugehen scheint, denn viele amerikanische Käufer wenden sich nun von der Kette ab.
Aber auch bei den Büchern, die es zum Rang der Schmuckausgabe gebracht haben, herrscht nicht unbedingt eitel Sonnenschein, denn bei vielen von ihnen gilt das englische Dictum „not all that glitters is gold“. Zwar sind die Ausgaben wunderschön und bieten auf den ersten Blick viele ästhetische wie auch inhaltliche Vorteile, dennoch ist es trotz ihres hohen Preises keine Selbstverständlichkeit, dass dieser Charme von Dauer ist: Nicht zuletzt wegen ihres Preises machen die Produkte den Eindruck von Langlebigkeit. Gerade die Ausgaben des MinaLima-Verlages sind jedoch extrem anfällig für Gebrauchsspuren. Ihre Einbände verlieren selbst bei vorsichtiger Behandlung schnell die Farbe — kein Wunder, denn sie bestehen aus unbeschichteter Pappe. Auch hier ist der geschichtliche Aspekt, etwa der besonderen Einbände historischer Bibliotheken, mehr Schein als Sein. (Löbliche Ausnahmen von der Regel sind hierbei die Stoffeinbände des Coppenrath-Verlags, die selbst in Kinderhänden viel von ihrem Glanz behalten.) Meine eigenen tatsächlich historischen Ausgaben, wie etwa Romane von Doyle und Sayers aus den zwanziger und vierziger Jahren, sind da weitaus beständiger.
Die Anziehung von „echten“ alten Büchern ist unbestreitbar der Ursprungspunkt dieser Bewegung, und das liegt, ganz zu schweigen von ihrer Wertigkeit, vor allem an ihrem spirituellen Innenleben. Bei alten, personalisierten Gotteslob-Ausgaben, wie sie beispielsweise in der Ausstellung „Erlesen“ des Dom- und Diözesanmuseums Bamberg zu finden sind, ist dies besonders gut spürbar: Es sind nicht nur Gegenstände, die geliebt, erhalten und durchbetet sind, sondern ein Teil des Besitzers. Gerade im Katholizismus wird auf diese Form von spiritueller Spurenlegung noch weitaus mehr Wert gelegt als etwa im Protestantismus, in dem eine stärkere Trennung der Welten zu der zunehmenden „Unsichtbarkeit“ Gottes führt.
Letztendlich ist dies auch etwas, das sich in weltlichen Aspekten unseres Lebens bemerkbar macht. Die Sehnsucht nach dem Lichtvollen und Schönen, bei der es sich ja um nichts anderes als um die Sehnsucht nach der Nähe zu Gott handelt, selbst wenn nicht jeder Agnostiker es zugeben möchte, manifestiert sich mangels eines Zugangs zur spirituellen Ebene in Gegenständen, von denen wir aus Erfahrung wissen, dass sie in der Vergangenheit genau das zu geben vermochten, das heute so vielen Menschen fehlt – ein klarer Fall der Verwechslung von Ursache und Wirkung.