Kennste eine Krippe, kennste alle. Requisiten und personelle Besetzung der weihnachtlichen Stallszenerie sind doch genormt – denkt man, bis originelle Bethlehem-Variationen mit Josef als Robbenjäger, einer Marzipan-Maria oder kubanischem Rum als Ersatz für Weihrauch und Myrrhe uns im Norddeutschen Krippenmuseum in Güstrow eines Besseren belehren.
Monatelang muss die Heilige Familie in dunklen Kellern und auf kalten Dachböden ausharren, bis uns die Jahresendzeitstimmung packt und wir die Krippen wieder aus den Kartons holen. In Güstrow dagegen verkünden Maria, Josef und all die Nebenfiguren nicht nur zur Weihnachtszeit, dass uns der Heiland geboren sei. Halleluja! Frömmigkeit und Bibelfestigkeit sind keine Bedingungen, um an der Ausstellung in der ehemaligen Heilig-Geist-Kirche seine Freude zu haben, denn dort sind alle Krippen wahre Kunstwerke.
Maria und Josef als Inuit
Etwa 100 der insgesamt 700 Exemplare aus aller Welt werden in jährlichem Wechsel gezeigt. Jede erzählt die Geschichte der Geburt Jesu, aber jede auf eine sehr spezielle, oft auch verblüffend andersartige Weise. Mal steht die Krippe nicht im Stall, sondern in einem afrikanischen Kraal, und statt Ochs und Esel lassen sich dort Leopard und Krokodil als Vertreter der landestypischen Tierwelt blicken.
Mal liegt das strohblonde Jesuskind völlig nackt und ungeheuer lässig zwischen seinen regenbogenbunt gewandeten Hippie-Eltern, und nicht in allen Fällen haben Josef und Maria überhaupt Zeit, dem Sohn Gottes ausgiebig zu huldigen.
Als Inuit müssen sie für den Lebensunterhalt sorgen und mit Harpune auf Robbenjagd gehen, das kleine Christkind ist im Tragekörbchen auf Mutters Rücken immer dabei. Der Künstler, der Bethlehem in die grönländische Eiswelt verlegte, hat seine Figuren aus Walzahn und Rentierknochen geschnitzt.
Sein Kollege aus Mali wählte Metall, die Kameruner Krippe wurde aus gebranntem Ton gefertigt, die koreanische Variante hüllt Jesus in eine edle Seidentracht, und sogar Brotteig, Bambusrohr, Bananenblätter und winzige Nussschalen eigneten sich als Werkstoff.
Der brasilianische Krippenbauer nutzte Jutesäcke als Material. Passend, dass er die Weisen aus dem Morgenland nicht Gold, Weihrauch und Myrrhe mitbringen lässt, sondern geröstete Kaffeebohnen. Wo auch immer der christliche Glaube verwurzelt ist, haben die Menschen Jesus zu einem der Ihren gemacht, die Weihnachtsgeschichte an ihre Lebensrealitäten und an die heimischen Gefilde angepasst.
Wimmelbilder mit Symbolkraft und Witz
Es lohnt sich deshalb, auf die vielen kleinen Details der Miniaturwelten besonders zu achten, denn oft sind Krippen wie Wimmelbilder voller symbolischer oder witziger Details: Alltagsgegenstände wie Körbe, Werkzeuge oder Musikinstrumente, die kulturelle oder historische Zeitstimmungen einfangen, oder Figuren, die besondere Gesichtsausdrücke tragen, wie zum Beispiel ein von Blähungen geplagtes Christkind oder ein sichtlich stolzer Josef, der hinter seiner Frau steht, um ihr den Rücken zu stärken.
Manche Krippen zeigen nicht nur die Geburtsszene, sondern ganze Landschaften oder stellen komplette Dorfgesellschaften dar – inklusive Wirtshaus, Schule oder Markt. Bäcker, Schmiede, Holzfäller und spielende Kinder bringen Bewegung in die Szene, in denen gelegentlich auch zeitgenössische Figuren eingefügt wurden, zum Beispiel ein Politiker, Banker oder Bettler – als Kritik an sozialer Ungleichheit. Eine gute Krippe ist wie ein visuelles Geschichtsbuch, ein Spiegel von Kultur, Glaube, Handwerk und Zeitgeist, der kulturelle Unterschiede, künstlerische Handschriften und verborgene Botschaften erkennen lässt.
Die Krippenkunst selbst hat eine faszinierende Geschichte: Sie entstand im 13. Jahrhundert, maßgeblich durch Franz von Assisi in Italien, der die Weihnachtsgeschichte für die breite Bevölkerung anschaulich und greifbar machen wollte. Krippen dienten nicht nur der religiösen Andacht, sondern auch als pädagogisches Medium, um das Leben Jesu zu vermitteln. In den ersten Jahrhunderten bestanden sie meist aus einfachen Holz- oder Tonfiguren, die in Kirchen oder Klöstern aufgestellt wurden.
Spiegel von Kultur und Epoche
Mit der Barockzeit entwickelten sich Krippen zunehmend zu kunstvollen, üppig dekorierten Ensembles: Dorfszenen, Alltagsleben und gesellschaftliche Strukturen fanden Eingang in die Darstellung. Handwerkliche Techniken verfeinerten sich, Figuren wurden bemalt, ausgestattet und oft in lebensechter Größe gestaltet.
Im 19. und 20. Jahrhundert entstanden regional unterschiedliche Stilrichtungen: In Deutschland prägten bemalte Holzfiguren die Krippenkunst, in Italien waren Wachs und Filz, in Frankreich hingegen Papier oder Pappmaché beliebte Materialien, und stets spiegelten die Darstellungsweisen die lokalen Gegebenheiten, handwerkliche Traditionen und kulturellen Besonderheiten wider.
Heute setzen Künstler weltweit diese Entwicklung fort, indem sie die Geburt Jesu ebenfalls an ihre eigenen Lebenswelten und gesellschaftlichen Realitäten anpassen. Die Vielfalt der Werkstoffe, Stilmittel und Szenen, die wir im Norddeutschen Krippenmuseum in Güstrow bewundern können, ist so Ausdruck eines jahrhundertealten Brauchtums, das gleichzeitig zeitlos, anpassungsfähig und kreativ geblieben ist.
Die überraschende Erfahrung, welch ungeheure Bannkraft von all den verschiedenen Krippentraditionen ausgeht, verdanken wir vor allem der viel und weit gereisten Mechthild Ringguth. Fasziniert von der universellen Bedeutung der Weihnachtsgeschichte trug sie in über 40 Jahren rund 350 Krippen aus 70 Ländern zusammen und legte damit den Grundstein für das Norddeutsche Krippenmuseum.
Ob als Figuren des traditionell indonesischen Schattenspiels Wayang Kulit, ob als Mini-Version in einem wenige Millimeter großen Schwarzdornkern oder als Meisterwerk böhmischer Glasbläser – sämtliche Krippen dieses Museums tragen bei aller Unterschiedlichkeit dieselbe Botschaft: Bethlehem ist nicht nur ein Ort im Heiligen Land – Bethlehem ist überall dort, wo Menschen Weihnacht feiern.
Norddeutsches Krippenmuseum, Heiligengeisthof 5, 18273 Güstrow:
www.norddeutsches-krippenmuseum.de
Die Autorin berichtet als freie Reisejournalistin aus allen Ecken der Welt: www.quint-und-quer.de
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