Bedeutende Deutsche

„Gespalten längst ist deiner Kirche Reich“

Auf den Spuren einer großen Einzelnen – Annette von Droste-Hülshoff zum 225. Geburtstag.
Wasserschloss Hülshoff
Foto: UW | Das Wasserschloss Hülshoff. Hier wurde die Droste als Siebenmonatskind geboren. Heute zieht es Liebespaare für romantische Ausflüge an.

Die Deutschen lesen ihre größte Dichterin nicht. Auch ihr Bildnis auf Briefmarken der Bundespost hat den Griff zum Buch nicht beflügelt. In der frühen Serie „Bedeutende Deutsche“ (1961) diente Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) noch als Anstandsdame unter Männern. Mit der Serie „Frauen der deutschen Geschichte“ (2002) setzten sich feministische Forderungen durch. Doch Quote garantiert keine Qualität. Das Postwertzeichen mit der westfälischen Sybille erschien an einem Ausgabetag mit der Knef. Wobei Hildegard Knef der höhere Markenwert zugewiesen wurde. Zu Annettes 225. Geburtstag gibt es wieder eine Sondermarke (70 Cent) für den Kartengruß.

Als ich in Münster das Schlaun-Gymnasium besuchte, gab es noch die grünen Zwanzig-Mark-Scheine mit dem Bildnis der Seherin aus altem westfälischen Landadel. Zu den Familienausflügen am Sonntagnachmittag gehörten Besuche auf dem Wasserschloss Hülshoff. Hier wurde die Droste als Siebenmonatskind geboren. Vielleicht war die frühe Geburt Ursache vieler echter und eingebildeter Leiden. Das kleine Burgfräulein war eine große Hypochonderin. Sie hörte die Flöhe husten, sah Undinen im Wasser des Burggrabens schwimmen und Irrlichter über den Mooren flimmern. Besaß sie das zweite Gesicht oder spielte ihre hochsensible Phantasie zuweilen verrückt? Verschwommen die Bezüge zwischen Traum und Wirklichkeit, weil sie unter einer enormen Sehschwäche litt, oder schaute sie wie durch eine dichte Taxuswand auf den unsichtbaren Grund?

Unsichtbare Stigmata

Ärztliche Hilfe in ihren nervösen Leiden fand sie bei dem Mitbegründer der Homöopathie, Clemens Maria von Bönninghausen (1785-1864). Der Mediziner hatte im Auftrag der preußischen Regierung das Gutachten über die stigmatisierte Anna Katharina Emmerick (1774-1824) aus dem benachbarten Dülmen verfasst. Als Vertreter einer neuen psychosomatischen Sicht auf den Menschen glaubte er nicht an das Wunder der Wundmale. Die Droste war ebenfalls durchdrungen von der Gegenwart des Gekreuzigten, doch trug sie die Stigmata unsichtbar auf ihrem Herzen. Sie waren ihr Anstoß zur bedeutendsten katholischen Dichtung des 19. Jahrhunderts. Ihr „Geistliches Jahr in Liedern auf alle Sonn- und Festtage“ ist ein Exerzitium in der Nachfolge Christi. Es erzählt in biblischen Bildern von der Nacht des Glaubens und der Erfahrung der Gnade in bedrängter Zeit. „Gespalten längst ist deiner Kirche Reich/ Und trauernd hängt der mühbeladene Zweig/ An deinem Baume, doch die Wurzel steht.“ Die Wurzel ist die Eucharistie: „Und sprich ein Wort, so wird dein Knecht gesund!“

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Brautpaare, die sich heute am Wassergraben versammeln und die Kelche heben, wissen nichts von eucharistischer Wandlung. Neben dem Standesamt im ersten Stock des Schlosses sind einige Zimmer für Besucher geöffnet. Hier bin ich an diesem Tag allein, stehe vor der Lagerstatt des Burgfräuleins, so klein und schmal wie ein Kinderbett. In dem Bibliothekszimmer wurde Annette mit ihren Geschwistern unterrichtet. Der Vater war naturkundlich und historisch interessiert, die Mutter liebte die Literatur. Beide Neigungen hatte Annette geerbt. Neben der Schreibfeder besaß sie wie Goethe einen Geologenhammer, mit dem sie in den Mergelgruben nach Versteinerungen suchte. Sie beherrschte neben Latein und Griechisch die modernen europäischen Sprachen. Ihre dichterischen Versuche wurden von den Eltern gefördert, einer Veröffentlichung gegenüber waren sie jedoch skeptisch. So erschien der erste Gedichtband im katholischen Münsteraner Aschendorff Verlag anonym. Die Auflage betrug 400 Exemplare, wovon 74 verkauft wurden.

Annettes Bücherwelt

Das Bibliothekszimmer birgt hinter den Glastüren auch Bücher über Essstörungen und die Autobiographie von Henry Ford. Die alten Bestände, darunter Werke von Wieland und Heine, nährten für einen Moment die Illusion, hier in Annettes Bücherwelt zu wandeln. Authentischer sind die drei kleinen Zimmer, die Annette von Droste-Hülshoff im Haus Rüschhaus bewohnte. Nach dem Tod des Vaters und der Übernahme des Stammsitzes durch den Bruder zog die Mutter auf ihr Altenteil. Das Rüschhaus liegt eine gute Stunde Fußwanderung vom Schloss entfernt. Der Vater hatte dieses Idyll noch zu Lebzeiten erworben. Während die Schwester Jenny mit Freiherr Joseph von Laßberg eine glückliche Ehe einging und auf das schweizerische Schloss Eppishausen, später auf die Meersburg an den Bodensee übersiedelte, blieb Annette bei ihrer Mutter. Sie erlebte hier ihre produktivsten Jahre.

Bald zog auch ihre alt gewordene Amme Maria Catharina Plettendorf (1763-1846) in das Rüschhaus. Johann Conrad Schlaun (1695-1773), Westfalens größter Barockbaumeister, Architekt des Münsteraner Schlosses, in dem Hans Blumenberg später seine berühmten Vorlesungen halten sollte, hatte es für sich als Sommerfrische errichten lassen. Von der großen Stille des Gartens, durch den die Dichterin wandelte und der ihr in warmen Sommernächten einen ungetrübten Himmelsblick schenkte, kann heute nicht mehr die Rede sein. Nur einen Steinwurf vom Rüschhaus entfernt, brummen in einer Endlosschleife die Motoren auf der Hansalinie (A1). Jede Feldhamsterkolonie würde heute den Bau dieser Autobahn unmöglich machen.

Nicht auf der roten Liste

Annette von Droste-Hülshoff steht dennoch nicht auf der roten Liste des katholischen Erbes. Ein Geist von dieser Strahlung kann nicht untergehen, weil er niemals aus sich selbst lebt. Die Dichterin legte von ihrer Sendung mit den berühmten Worten Zeugnis ab:

„Meine Lieder werden leben,

Wenn ich längst entschwand,

Mancher wird vor ihnen beben,

Der gleich mir empfand.

Ob ein andrer sie gegeben,

Oder meine Hand!

Sie, die Lieder durften leben,

Aber ich entschwand!“

Die Droste war immer und unverkennbar die Einzelne. Darin glich sie ihrem dänischen Zeitgenossen Søren Kierkegaard. Beide wussten, dass alle Erneuerung der Kirche mit der Umkehr des Einzelnen beginnt. Über einem Seitenflügel des Rüschhauses hat sein Erbauer einen Spruch anbringen lassen. Er besteht nur aus Dativen und endet in einen Dativus Commodi:

„Angelis

Archangelis

Omnibus Sanctis

Tutelae MDCCXLVII“ Diese Weihe hat sich in der Dichterin erfüllt: „Den Engeln und Erzengeln und allen Heiligen zum Schutz (befohlen) 1747.“ Die Droste hatte kein Publikum. Sie suchte keinen Erfolg bei den wechselnden Launen und Moden der Leser. Sie schrieb, weil sie schreiben musste. Das Wort war ihr Auftrag. So nutzte sie das ihr anvertraute Talent als Zeugnis und Dank gegenüber dem Geber der Gabe. Das „Geistliche Jahr“ ist Antwort auf Gottes Zuruf in den Worten der Bibel. Es beschreibt ein Durchdrungensein von Gottes Gegenwart in allen Adern des Seins. Das „Geistliche Jahr“ ist religiöse Dichtung in ihrer reinsten Form als Gebet und Hingabe an den Willen Gottes. Deshalb ist die Dichterin über den Erfolg bei den Menschen völlig unbekümmert.

Gefäß der Gnade

Über zwanzig Jahre hat sie immer wieder an diesem Wegbegleiter und Seelenführer durch das Kirchenjahr gearbeitet. Die Sorge um eine Veröffentlichung überließ sie der Nachwelt. Aber sie wusste, dass sie als ein Gefäß der Gnade unsterbliche Verse empfangen hatte. Als religiöse Weltliteratur können sie niemals populär sein. Sie lassen sich wegen ihrer sprachlichen Dichte und Intensität der Erfahrung nicht vermarkten. Das gilt auch für die Programme der Akademien, der Volkshochschulen und anderer Bildungshäuser. Dichtung in reiner Form widersetzt sich dem Zeitgeist und überlebt ihn dadurch.

Die Gedichte der Droste vergegenwärtigen die Substanz des katholischen Glaubens. Wer in Zeiten ungeheurer geistiger Verluste Berührung mit dem Eigentlichen und Wesentlichen sucht, wird hier überreich gestärkt werden. Am Ende ihrer Dichtung schaut die Seherin auf den kommenden Christus, von dem unsere Gegenwart nichts weiß:

„Und wie einst die Arche trug das Leben

Durch der Sünde allgemeinen Tod,

Wird das süße Kreuz mich rettend heben,

Wenn entsetzlich das Verderben droht.

Ja, ich will auf Jesu Worte bauen,

Seh ich gleich nicht ihn, nur die Nacht,

Fest nur, fest in Demut und Vertrauen,

Seele mein, mit deiner ganzen Macht.“

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