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„Es muss ruhende, verweilende Schätze im Land geben“

Die aus der Lateinschule in Schlettstadt hervorgegangene Bibliothek des Humanismus bewahrt den Nachlass eines Jahrhunderts humanistischer Studien.
Bibliothek
Foto: Hartmut Sommer | Die Bibliothek des Humanismus in Schlettstadt.

Manchmal bedarf es einer glücklichen Fügung, damit ein bedeutendes Werk wie die wirkungsreiche Lateinschule von Schlettstadt (Sélestat) im Elsass mit der bis heute existierenden bedeutenden Bibliothek des Humanismus (Bibliothèque Humaniste) entstehen kann. Die ergab sich, als der tatkräftige Pfarrer Johannes von Westhuss bei der Suche nach einem neuen Rektor für die von Pfarrei und Magistrat unterhaltene Schule auf Ludwig Dringenberg aufmerksam gemacht wurde. Studenten aus der Stadt hatten den jungen Gelehrten an der Universität Heidelberg kennen- und schätzen gelernt. Westhuss folgte ihrer Empfehlung und übertrug Dringenberg 1441 die Leitung der Schule. 36 Jahre lang sollte er sie prägen und zu einem Zentrum humanistischer Bildung am Oberrhein entwickeln.

Pionier einer erneuerten Pädagogik

Bis zur Berufung von Dringenberg unterschied sich der Unterricht in Schlettstadt nicht von anderen Lateinschulen, die auf das Studium und geistliche Berufe vorbereiten sollten. Latein wurde unterrichtet, indem man den Schülern drillmäßig grammatische Regeln eintrichterte. Auswendiglernen mit anschließendem „Behören“ und häufige Strafen war die Methode. Dazu passten die verwendeten Lehrbücher. Das weitverbreitete „Doctrinale puerorum“ von Alexandre de Villedieu etwa präsentierte die Grammatik als Merkhilfe in 2645 Hexameter-Versen. Weitschweifige und überfordernde Kommentare überfrachteten den Lehrstoff. Das Lernergebnis war entsprechend dürftig.

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Dringenberg hatte es anders erlebt. In der Schule des Klosters Sint-Agnietenberg bei Zwolle in den Niederlanden, wo auch Thomas a Kempis wirkte, lernte er den Geist der Brüder vom gemeinsamen Leben kennen, einer Reformbewegung, die aus einer veräußerlichten, in Formalismen erstarrten Religiosität herausführen wollte, hin zu einer auf Innerlichkeit ausgerichteten Frömmigkeit in der Nachfolge Christi, Devotio moderna genannt. Wahrscheinlich ist er aus seiner westfälischen Heimat als fahrender Scholar zu dieser namhaften Bildungsstätte gewandert, möglicherweise mit Zwischenstation im Kloster Böddeken, das noch im Bereich des Hochstifts Paderborn lag.

Beide waren an die Windesheimer Kongregation angeschlossen, zu der fast einhundert Klöster gehörten, die der Devotio moderna folgten. Der Unterricht in den Brüderhäusern und Klöstern dieser Bewegung sollte die sittlichen, religiösen und geistigen Fähigkeiten gleichermaßen entwickeln, mit dem Ziel einer mündigen christlichen Persönlichkeit. Damit stand die Devotio moderna dem aufkommenden Humanismus nahe, allerdings in seiner christlichen Variante, die eine kirchliche Erneuerung und persönliche Läuterung im Studium vorscholastischer Texte (etwa der Kirchenväter) sowie lateinischer und griechischer Klassiker suchte, sofern sie mit dem christlichen Tugendbild vereinbar waren. Auch Erasmus von Rotterdam ist ihr zuzuordnen, dessen lebenslange Begeisterung für die klassische Literatur und die lateinische Sprache an einer Schule der Brüder vom gemeinsamen Leben in Deventer geweckt wurde. 

Pflanzstätte des christlichen Humanismus

Ganz in diesem Geist ging Dringenberg nach seiner Ankunft in Schlettstadt ans Werk und formte den Unterricht grundlegend um. Allen Ballast des gängigen Lehrstoffes ließ er weg. Er verzichtete nicht auf Grammatik, legte den Schwerpunkt aber auf die Lektüre, um einen lebendigen Bezug zur Sprache zu schaffen. Ein Gefühl für Intonation vermittelte er, indem er deutsche Bauernregeln in lateinische zweizeilige Verse übersetzen ließ. Nachsichtige Milde ersetzte das Strafreglement. Er hatte sich selbst als mittelloser Scholar durch alle Widrigkeiten des damaligen Schulsystems kämpfen müssen bis hin zum Abschluss als Magister artium. Unter seiner Matrikel an der Universität Heidelberg ist „pauper“, also „arm“, vermerkt. Früh musste er damit in den unteren Klassen selbst unterrichten, um vom Schulgeld freigestellt zu sein, wodurch er sehr genau wusste, wo die Verständnisprobleme der Schüler liegen konnten. Beste Voraussetzungen also, um Pionier einer auf die Bedürfnisse und Anlagen der Schüler bezogenen Pädagogik zu werden, wie sie etwa Comenius und François Fénelon weiter entfalten sollten. 

Als Dringenberg 1477 starb, konnten seine Nachfolger auf einem soliden Fundament aufbauen. Absolventen der Schule nahmen führende Positionen ein und traten selbst mit einem reichen Schaffen hervor. Unter Crato Hofmann und Hieronymus Gebwiler brachte die Schule mit Beatus Rhenanus (1485–1547) ihren wohl bedeutendsten Absolventen hervor. Dessen erhaltenes Schulheft mit Mitschriften und Notizen lässt einen Eindruck von der Qualität des Unterrichts gewinnen. Beatus, versiert in Latein und Griechisch, der in Paris studierte und als begeisterter Büchersammler zugleich eine Buchdruckerlehre absolvierte, war dazu prädestiniert, in den nun überall entstehenden Verlagsdruckereien seinen Platz zu finden. Er arbeitete zunächst bei Matthias Schürer, einem Schlettstädter Freund, der in Straßburg eine Druckerei gegründet hatte, später dann zusammen mit den führenden Basler Druckern Amerbach und Froben.

Schulheft
Foto: Hartmut Sommer | Das Schulheft des Beatus Rhenanus.

Neben der eigenen Herausgabe von Klassikertexten betreute er viele Jahre die Drucklegung der Werke von Erasmus, zu dem eine enge Freundschaft entstand. Die erste Biografie dieses führenden Humanisten stammt aus seiner Feder. Wie Erasmus verließ er Basel, als die Stadt von den reformatorischen Unruhen erfasst wurde, und ging zurück nach Schlettstadt. Er setzte sich für eine Reformierung der Kirche durch innere Glaubenserneuerung ein, revolutionären Umsturz lehnte er ab. Unter Johannes Sapidus, der von 1510 bis 1525 amtierte, erreichte die Schule einen Höhepunkt ihrer Anziehungskraft, bevor sie dann mit den Wirren der Reformation stetig an Bedeutung verlor. Alle Rektoren der Blütezeit vertraten einen Humanismus im christlichen Sinne, und die Schule wirkte als Pflanzstätte des christlichen Humanismus über ihre Absolventen in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein.

Die Bibliothek des Humanismus

Zehn Jahre nach dem Amtsantritt von Dringenberg schuf Pfarrer Westhuss vor seinem Tod im Jahre 1452 noch eine wichtige Voraussetzung für das weitere Aufblühen der Schule, eine Bibliothek. Er stiftete selbst als Grundstock eine überschaubare, für die damalige Zeit aber ansehnliche Anzahl von etwa 30 Büchern, die er hatte kopieren lassen, und sorgte für die sachgerechte Unterbringung in einer Seitenkapelle der Stadtkirche Sankt Georg. Bücher waren teuer und als Handschriften nur in geringer Zahl verfügbar. Die kostbaren Bücher lagen auf Tischen, mit einer Kette gegen Diebstahl gesichert. Geistliche konnten sich für ihre Zwecke das Benötigte notieren und Lehrer mussten Abschriften anfertigen, die sie im Unterricht wiederum den Schülern diktierten und erläuterten.

Weitere Schenkungen ließen den Bestand der Bibliothek stetig anwachsen. Dabei waren bald auch Inkunabeln und Frühdrucke. Der Erfolg des Humanismus ist eng mit der neuen Möglichkeit verbunden, sich über Druckwerke mitzuteilen. Die Wirkung des Erasmus wäre anders nicht denkbar gewesen. Den Humanisten schwebte eine Erneuerung und Läuterung durch die klassische Reinheit der „bonae litterae“ vor. Es galt, verschollene Werke in Bibliotheken aufzuspüren und einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Beatus etwa entdeckte das letzte erhaltene Exemplar der „Historia Romana“ von Velleius Paterculus in der Benediktinerabtei Murbach und gab es bei Froben heraus. Erasmus wurde wahrscheinlich durch die „Annotationes“ zur Vulgata von Lorenzo Valla, auf die er in der Parkabtei bei Löwen stieß, dazu angeregt, die lateinische Übersetzung des Neuen Testaments zu überarbeiten. Ergebnis war das 1516 erschienene „Novum Instrumentum omne“, ein zweispaltiger Band mit dem griechischen Text und einem entsprechend verbesserten lateinischen daneben.

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Eine Erstausgabe dieses Bandes gehört zum Bestand der aus der Lateinschule in Schlettstadt hervorgegangenen Bibliothèque Humaniste, die über alle Wirren der Zeit hinweg fast vollständig bewahrt geblieben ist. Besonderen Zuwachs erhielt sie durch den Nachlass des Beatus Rhenanus, der ihr um die 670 Bände vermachte. Nach mehreren Umzügen fand sie 1888 ihren heutigen Platz in der ehemaligen Kornhalle der Stadt, wo ihre Schätze in Vitrinen oder als digitale Präsentation zu betrachten sind. Auch hier gilt, was Erhart Kästner, Schriftsteller und Bibliothekar an der Herzog August Bibliothek zu Wolfenbüttel, über die von ihm betreute Sammlung gesagt hat: „Es muss ruhende, verweilende Schätze im Land geben. Das erzeugt das Bewusstsein des Reichtums. Es müssen Inseln da sein, die vom Zweckdenken ausgenommen sein dürfen. Sind erst die Schätze in einem Land einmal alle auf Ausbeutung gestellt, so beginnt die große Verarmung.“


Der Verfasser ist promovierter Erziehungswissenschaftler. Er arbeitet als freier Autor und Übersetzer.

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