Ein Flügelaltar aus dem späten 15. Jahrhundert war einst Ziel katholischer Wallfahrten aus Böhmen, die zu einer evangelischen Kirche nach Sachsen führten. Die Gläubigen erbaten sich von der „Madonna von Fürstenau“ Hilfe und Schutz vor Krankheit und Not. Heute führt sie Deutsche und Tschechen über den Narben von Krieg und Vertreibung zusammen. Entdecker dieser wundersamen Geschichte des zwischen den Grenzen wandelnden Gnadenbildes der Maria ist der Historiker Jan Kvapil aus Aussig, heute Ústí nad Labem.
Jan Kvapil kommt eigentlich aus Prag und spricht fließend deutsch. Im Lockdown haben ihn seine Forschungen zum kunstvollen Flügelaltar geführt. Entstanden um 1495 in Pirna für das dortige Dominikanerkloster, in dessen Mauern sich heute ein Museum befindet, wurde er zur Zeit der Reformation nach Fürstenau ins entlegene Erzgebirge verkauft. Hier setzte sich Luthers Lehre erst spät durch, ebenso wie die folgende Rekatholisierung Böhmens. Die Fürstenauer arbeiteten in den Erzgruben auf der böhmischen Seite. Vielleicht hatten sie sich deshalb ihren katholischen Glauben länger bewahrt und einen Marienaltar für ihre evangelische Kirche angeschafft.
Pilgerort böhmischer Katholiken
Dort übersteht er den Dreißigjährigen Krieg und nachfolgende Wirrungen um Landesgrenzen und Glaubenslehren. Anfang Juli zu Mariä Heimsuchung pilgerten die böhmischen Katholiken zum Altar mit dem Antlitz der Mutter Gottes und wurden von Krankheiten und anderen Nöten geheilt. Bis es den Lutheranern zu viel wird: sie wollen die „Abergläubigen“ und die Madonna loswerden und verschenken sie kurzerhand ins nächstgelegene böhmisch-katholische Dorf Vorderzinnwald, wo sie Heimat in einer Kapelle findet. Bis die Folgen des Zweiten Weltkrieges, den sie unbeschadet übersteht, zur wilden Vertreibung aller Einwohner von Vorderzinnwald sowie aller Sudetendeutschen durch die tschechische Regierung unter Edvard Beneš führen. Dorf und Kapelle werden dem Erdboden gleich-gemacht. Doch ein verbliebener mutiger Mann, Karl Rudolf, rettet den Altar und bringt ihn im nächsten Ort unter: der Kirche von Cínovec. 1989 fallen die Grenzen. Die Wunden von Zerstörung und Vertreibung sind damit noch lange nicht geheilt. Die eigentliche Gefahr liegt jetzt woanders: den schlecht gesicherten Kirchen drohen Vandalismus und Diebstahl. So holt das Regionalmuseum von Teplice (Teplitz) den Altar 2004 zu sich und restauriert ihn drei Jahre lang. Seitdem ist er dort zu besichtigen.
Wundertaten der Madonna
Die Wundertaten der Madonna von Fürstenau sind damit noch nicht beendet. Mit Jan Kvapil werden sie gerade wieder lebendig. Er entdeckt nicht nur ihre bewegte Vergangenheit, sondern lässt sie im Grenzgebiet auch wieder erlebbar werden: für Deutsche und Tschechen, Protestanten und Katholiken, Vertriebene und Neusiedler, die nach 1946 hierher kamen und deren Kinder, Enkel und Urenkel seitdem hier leben. So wie Jan Kvapil. Er berichtet von Sudetendeutschen aus dem früheren Voderzinnwald, denen die Tränen fließen, wenn er ihnen das Leben und den Glauben von früher wieder vor Augen führt. Aber es werden immer weniger, die Generation der Zeitzeugen stirbt aus. Zurück möchte niemand, auch soll die Kapelle nicht wieder aufgebaut werden. Die Gegend ist heute Naturschutzgebiet. Aber gemeinsam erinnern, beten und feiern will man. Anfang Juli, zu Mariä Heimsuchung, soll auch im nächsten Jahr wieder eine Kirchenwallfahrt nach Vorderzinnwald zu den Mauerresten der einstigen Kapelle stattfinden. Die Madonna und Jan Kvapil machen es möglich.
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