Feuilleton

Der Hit aller Weihnachtshits

Mitten im Zweiten Weltkrieg und während des Holocaust komponierte der jüdische Kantorensohn Irving Berlin (1888–1989) in Kalifornien „White Christmas“. Von Bodo Bost
Jüdische Kantorensohn Irving Berlin (1888–1989)
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Ich träume von einer weißen Weihnacht – bei jeder Weihnachtskarte, die ich schreibe: Mögen eure Tage fröhlich und hell sein, und alle künftigen Weichnachtsfeste weiß!“ So schrieb es mitten im Zweiten Weltkrieg und während in Europa der Holocaust auf vollen Touren im Gange war, im Jahre 1941 der jüdische Komponist Irving Berlin. Sein Lied wurde zum bekanntesten und meist verkauften Schlager des christlichen Weihnachtsfestes und es schallt bis heute nach, jedes Jahr wenn das Fest wiederkommt.

Der 1888 in Sibirien als Sohn eines jüdischen Kantors geborene Israel Isidore Beilin flüchtete im Alter von fünf Jahren mit seiner Familie vor Pogromen in Russland in die USA und wuchs in den Mietshäusern der Tin Pan Alley in Lower East Side von Manhattan auf, wo die Umgangssprache Jiddisch war und die meisten Songwriter Amerikas lebten. Er brach nach dem Tod des Vaters die Schule ab und schlug sich mit Gelegenheitsjobs und als Straßenmusiker durch. Obwohl er weder Noten lesen noch richtig Klavier spielen konnte, sang er Melodien vor, die andere für ihn in Noten aufschrieben. Die Orchestrierung erledigten dann ausgebildete Arrangeure. Nach ersten Erfolgen gab er sich den Namen Irving Berlin, nach einem englischen Schauspieler und einer deutschen Stadt, weil dies ihm Glück bringen sollte. Sein erstes Lied „Marie of sunny Italy“ wurde 1907 veröffentlicht, aber seine Karriere begann 1911 mit der „Alexander's Ragtime Band“, die zwei Millionen Exemplare verkaufte. Die US-Staatsbürgerschaft bekam er erst 1918. 1938 komponierte Berlin, nach einem Besuch in Großbritannien, „God bless America“, er ahnte bereits, dass ein großer Krieg bevorstünde. Das Lied wurde zur inoffiziellen Nationalhymne seines Landes, das bereits 1940 auf den beiden Konventen der Democratic und Republican Party gesungen wurde.

Irving Berlins „White Christmas“ jedoch wurde der Hit aller Hits. Laut Jody Rosen in seiner „White Christmas: The Story of a Song“ wurde es neben Englisch auch auf Niederländisch, Jiddisch, Japanisch und – vielleicht am unwirklichsten – auf Suaheli aufgenommen. Sein Umsatz hat weltweit 125 Millionen Exemplare erreicht und sein Platz als Allzeit-Top-Single hat die Beatles, Elvis Presley und Sinatra hinter sich gelassen, er wurde nur einmal übertroffen von Elton Johns „Candle in the Wind“, das dieser zum Tode von Prinzessin Diana komponiert hatte. Zu den Sängern, die „White Christmas“ in ihr Repertoire aufgenommen hatten, gehören die Beach Boys, Bob Dylan und Bob Marley. Irving Berlin schrieb das Lied zu Beginn des neuen Jahres 1940, möglicherweise in Kalifornien. Die Quellen sind nicht eindeutig. „White Christmas“ war wahrscheinlich nicht das Ergebnis einer einmaligen spontanen Eingebung.

Es scheint, dass er über ein Weihnachtslied bereits mehrere Jahre lang nachgedacht hatte, möglicherweise mit einem satirischen Seitenhieb über die in den USA weit verbreitete jahreszeitliche Sentimentalität. Es gab zwar viele Juden, die in den USA Weihnachten feierten, viele taten es allerdings, indem sie das in die Adventszeit fallende jüdische Chanukkafest mit Elementen der christlichen Weihnacht zu „Weihnukka“ verbanden. Berlin aber mochte Weihnachten nicht aus einem anderen Grund. In seinem kreativen Unterbewusstsein war der tragische Tod seines einzigen Sohnes Irving Berlin jun., seines Stammhalters, am 25. Dezember 1928 im Alter von nur drei Wochen in New York tief verankert.

„White Christmas“ wurde wohl von einer Sängerin in Beverly Hills in Kalifornien, „wo die Sonne scheint und das Gras grün ist“, zum ersten Mal gesungen, wo man sich an Weihnachten nach dem kalten Norden sehnt. Was Berlin als bittersüße Parodie komponiert hatte, wurde zu einer sentimentalen Serenade. Die kreative Verbindung von Berlins Lied und Bing Crosbys Stimme war der eigentliche Glücksfall, der dem Lied zum Durchbruch verhalf. Crosby war genauso ein Hit-Macher wie Berlin, mit nicht weniger als 38 Nummer-Eins-Hits. Hollywood-Produzenten brachten Crosby und Berlin in dem Musikfilm „Holiday Inn“ zusammen. Crosby und Fred Astaire sangen für den Film neben „White Christmas“ noch fünf weitere Songs. Insgesamt verwandte die Produktion im Film zwölf Berlin-Songs mit Crosby. Nicht der Film jedoch verhalf dem Lied zum Durchbruch, sondern Crosbys nachfolgende Aufnahme von 1942 ließ die Kassen klingeln. Crosby selbst redete seine Leistung klein. „Eine Dohle mit einer Gaumenspalte hätte dieses Lied erfolgreich gesungen“, sagte er einmal.

Crosbys Aufnahme von „White Christmas“ wurde im Vorfeld von Weihnachten 1942 veröffentlicht. Ein Jahr nach Pearl Harbor waren Millionen amerikanischer Soldaten zum ersten Mal in ihrem Leben von zu Hause weg im Ausland verstreut und vermissten ihre Familien an Weihnachten an Orten wie Guadalcanal oder in Neu Guinea. „White Christmas“, das den Krieg mit keiner Silbe erwähnt, artikulierte die Sehnsucht der GIs nach Heimat auf eine einfache und melodische Art und Weise, die niemand, am allerwenigsten Berlin und Crosby, erwartet hatten.

Das Lied verbreitete sich über Mundpropaganda unter den GIs, was ebenfalls niemand erklären konnte. Als es jedoch die patriotische Hymne „Praise the Lord and Pass the Ammunition“, die nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour ein Jahr zuvor den US-Patriotismus und die Kriegsbegeisterung stimulierte, im Oktober 1942 in den Charts vom ersten Platz stürzte, fand es seinen Platz in der Legende, wo es bis heute geblieben ist. „White Christmas“ in Bing Crosbys Version von 1942 wurde unsterblich.

Im Gepäck der US-Soldaten ging die Platte um die Welt, mehr als 500 Mal wurde es seitdem gecovert. Es hat viele Versuche gegeben, den phänomenalen Erfolg zu erklären. Wahrscheinlich hat Berlin alles richtig gemacht, seine Arbeit im Zweiten Weltkrieg erklärte er so: „Die Geschichte macht Lieder.“ Das Lied war der künstlerische und kommerzielle Höhepunkt des goldenen Zeitalters des Volkslieds. Es stand für die Werte der Generation des Zweiten Weltkriegs und für das Erfolgsmodell der jüdisch-amerikanischen Symbiose.

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