Einst war sie das Allerheiligste der gesamten Christenheit, ein Triumph und ein Fest der Orthodoxie. „Hier ist ein zweites Mal die Fußwaschung, das Abendmahl, der Berg Tabor, das Praetorium des Pilatus und die Schädelstätte, in der Hebräer Sprache Golgotha genannt. Hier ward Er geboren, hier getauft, (...). Hier ward Er ans Kreuz geschlagen und wer Augen hat, der sehe die Fußbank. In dieser Kirche wurde er begraben und der vom Grabe gewälzte Stein zeugt hier für das Wort. Hier stand Er gleichsam von den Toten auf, das Schweißtuch und die Totenbinden bezeugen es!“ Die Rede ist von der Theotókos tou Phárou, von der Marienkirche des Pharos im Heiligen Kaiserpalast in Konstantinopel, die der gelehrte Nikolaos Mesarites so überschwänglich als „zweiten Sinai“, als „neues Bethlehem und Jerusalem“ pries und in der bis 1204 die wichtigsten Reliquien Christi verwahrt wurden.
Von weitem erkennbar
Wer sich von Westen mit dem Schiff näherte, sah den Pharos schon von weitem; den nach dem berühmten Vorbild von Alexandria benannten Leuchtturm der auf einer dreieckigen Landzunge zwischen Bosporus, Goldenem Horn und Marmarameer gelegenen Kaiserstadt. Bei der Ankunft prominenter Gäste wehten große Banner und bunte Standarten am Kai des unmittelbar am Meeresufer errichteten Bukoleon-Palastes, der seinen Namen mutmaßlich von einer Statuengruppe hatte, die den Kampf zwischen einem Löwen und einem Stier zeigte. Löwenskulpturen schmückten auch die Kaimauer des kaiserlichen Privathafens und die Fassade des über den Seemauern thronenden Schlosses.
Dessen um einen zentralen Innenhof angelegtes Obergeschoß öffnete sich zum Marmarameer hin durch eine repräsentative Loggia, indes die übrigen Mauern fensterlos waren, so dass die Ruhe des Kaisers durch nichts gestört werden konnte, wenn er in seinem hängenden Garten wandelte und dem Murmeln des Wassers in der zentralen Porphyrphiale lauschte. Überall standen die rotblonden, mit Äxten bewaffneten Hühnen der Warägergarde; Wikinger in prachtvollen Seidenuniformen mit eingewebten Adlern, goldenen Schuppenpanzern und spitzen Helmen, welche die Sicherheit der geheiligten Person des Kaisers garantierten. Noch luxuriöser waren die Hofbeamten gekleidet; die meisten von ihnen Eunuchen, die man aufgrund ihrer Schönheit und sanften, kindlichen Stimme ausgewählt hatte, um dem Kaiserhof apostelgleichen Glanz zu verleihen. Man begegnete ihnen spätestens auf der großen Prunktreppe, wenn man durch eines der drei marmorgeschmückten Palasttore vom Hafen zur Kirche hinaufstieg.
Schmuckaufwand getadelt
Die Kirche der Allheiligen Gottesmutter des Pharos lag hinter dem Bukoleon in unmittelbarer Nähe zum goldenen Triklinion. Gemessen an diesem achteckigen Thronsaal war das Gotteshaus klein; im Vergleich zur Hagia Sophia sogar winzig. Umso größer aber war der darum getriebene Ausstattungsluxus. Wegen eben dieses Missverhältnisses sah sich Patriarch Photios veranlasst, den Schmuckaufwand in seiner 864 verfassten Homilie zunächst zu tadeln, um dann aber versöhnlich darauf abzuheben, dass dieser mehr als gerechtfertigt wäre durch den Ruhm der darin gehüteten Heiltümer. Schon die Marmorfassade der über dem Grundriss eines griechischen Kreuzes erbauten Kirche wirkte wie aus einem einzigen Stein gehauen.
Überirdisch aber war das Innere! Die zentrale Kuppel ruhte auf vier Säulen. An allen Wandflächen, die nicht mit Jaspis oder vielfarbigen Marmorplatten verkleidet waren, glänzten Gold und Silber. Vom Silber schimmerten die Kapitelle der Säulen, die über goldenen Reifen saßen; aus Silber bestanden auch sämtliche Reliquiare, der Altar mit seinem Ziborium und sogar die Türen. Über dem Altartisch waren goldene, mit kostbaren Edelsteinen besetzte Tauben zu sehen, die in ihren Schnäbeln perlenbesetzte Zweige in Kreuzesform hielten.
Hochzeitskirche eines späteren Kaisers
Es ist zu vermuten, dass die Kirche in der Mitte des 8. Jahrhunderts errichtet worden ist. Erstmalig erwähnt wurde sie im Jahr 769 anlässlich der Vermählung des späteren Kaiser Leos IV. mit seiner Frau Irene, die nach dem überraschenden Tod des Gatten erst die Regentschaft für den noch minderjährigen Sohn übernahm und nach ihrem zeitweiligen Sturz von diesem als Mitregentin wieder eingesetzt wurde, ehe sie sich nach dessen Ermordung schließlich zur Alleinherrschaft aufschwang. Dass es zu dieser Zeit keinen Kaiser in Ostrom gab, soll den Papst in Westrom dazu angestachelt haben, Karl den Großen zu einem zu krönen.
Für die Pharos-Kirche bedeutsamer war der byzantinische Bilderstreit, in den Irenes Regierungszeit fiel, weswegen sie das zweite Konzil von Nicäa einberief, das die Verehrung der heiligen Ikonen unter Auflagen erlaubte. Endgültig besiegt wurden die Bilderstürmer aber erst ein halbes Jahrhundert später und wiederum durch eine Frau. Theodora, die Mutter des unmündigen Michaels III., mobilisierte in der Ostkirche die Bilderverehrer. 843 wurde auf der Synode von Konstantinopel die Wiederherstellung der Ikonen durchgesetzt. Zu diesem Anlass wurde die Theotókos tou Phárou als erste Kirche wieder mit goldgrundigen, figürlichen Mosaiken ausgeschmückt. Das Programm inklusive Pantokrator in der Kuppel und einer Maria Blacherniotissa in der Apsis – der Gottesmutter, die ihre segnenden Hände zum Gebet erhebt – war so ikonisch, dass es zum Vorbild für viele spätere Gotteshäuser wurde.
Schatzhaus des Kaisers
Über Jahrhunderte diente die Kirche als Schatzhaus der christlichen Kaiser Ostroms, deren Schlafzimmer mit dem Gotteshaus über eine Tür verbunden war. Um 940 beherbergte die Palastkapelle ein Hauptfragment vom Wahren Kreuz sowie die Heilige Lanze. 944 wurde das Mandylion von Edessa hierher transferiert, ein nicht von Menschenhand gemaltes Bildnis Christi. 956 kam der rechte Arm von Johannes dem Täufer dazu, 975 die Sandalen Christi und 1032 der Brief König Abgars V., der mit Christus postalisch verkehrt haben soll. 1036 krönte die Dornenkrone die Sammlung, in der sich auch verschiedene Gewänder des Erlösers befanden, das Handtuch der Fußwaschung, der zur Verhöhnung missbrauchte Purpurmantel, der Rohrstock, ein Kreuzesnagel und der Salbungsstein. Im Jahr 1200 – als der eingangs zitierte Kirchenmann dort als Hüter der Kirchenschätze diente, besaß die Pharos-Kirche damit eine Sammlung der ältesten und heiligsten Reliquien des Christentums; praktisch alle, die mit dem Leben Jesu Christi in Verbindung standen. Das Gotteshaus hatte dadurch eine universelle Bedeutung erlangt und konnte das an die Muslime verlorene Jerusalem problemlos ersetzen.
Vier Jahre später brach die Katastrophe herein. Weil die Franken, also die Franzosen, einige Deutsche und ein paar Oberitaliener, ihre vierte Kreuzfahrt nicht bezahlen konnten, boten die venezianischen Reiseveranstalter an, die Kreuzritter könnten das Geld für die Überfahrt durch einen Überfall auf das durch Thronstreitigkeiten zermürbte Konstantinopel auftreiben. Gesagt – getan. Am 9. April 1204 begann der Angriff, vier Tage später sah der für seine buschigen Augenbrauen bekannte Kurzzeitkaiser Alexios V. keinen anderen Ausweg, als die Flucht, der sich auch sein noch kürzerzeitlicher Nachfolger Konstantin XI. anschloss. Die Stadt überließen die Herren Griechen den Kreuzfahrern aus dem lateinischen Westen. Die Plünderung dauerte – nach damaligem Völkerrecht – drei Tage und ging einher mit Vergewaltigungen und Brandschatzungen. Unersetzliche Kunstschätze wurden zerstört, Ikonen und Reliquien in alle Winde verstreut – eine Verheerung, von der sich Byzanz nie wieder erholen sollte. Das Filetstück aber, die Pharoskirche, entging der Katastrophe; ähnlich wie das irakische Ölministerium bei der Eroberung Bagdads durch die Amerikaner. Vorerst zumindest, denn das kurzfristig errichtete, lateinische Kaiserreich war konstant klamm bei Kasse und lebte von der Versilberung des Reliquienschatzes. Die Ware Kreuz wurde verscherbelt und zuletzt auch die Dornenkrone verpfändet. Als die Lateiner nach 57 Jahren am Ende waren, gab es auch keine Marienkirche mehr am Pharos. Sie verschwand vom Erdboden.
Die Dornenkrone gibt es noch
Geblieben sind nur die vielen Pilgerberichte, die uns erlauben, ihre Gestalt und ihre Ausstattung zu rekonstruieren. Materiell haben sich nur Spuren erhalten – Die Staurothek im Limburger Domschatz und die Halberstädter Weihbrotschale sollen daraus stammen und vom Turiner Grabtuch heißt es, es sei das heilige Mandylion gewesen. Die Dornenkrone gibt es noch. Der Heilige Ludwig IX. kaufte sie vom letzten lateinischen Kaiser Balduin II., so dass dieser einen längst verlorenen Krieg noch ein wenig länger führen konnte. Die Theotókos tou Phárou aber, das Allerheiligste der Ostkirche, bleibt ein für immer verlorener Schatz des Christentums. Ein anderer Schatz ist ihre direkte geistige Nachfolgerin, die Sainte-Chapelle in Paris. Ludwig der Heilige ließ sie errichten als neues Gehäuse für Christi dornigen Kronreif. Ringlein, Ringlein, du musst wandern.
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