Im Jahr 1929 fand im Weltkurort Davos eine Disputation zwischen zwei Gelehrten statt, die schon im Vorfeld große Aufmerksamkeit hervorrief. Der eine war ein mondän-liberaler Philosoph, zeitweise Rektor der Universität Hamburg, jüdischer Kosmopolit; der andere, Kollege aus Freiburg, fast das genaue Gegenteil, bekannt als sportlicher Naturbursche, Skifahrer und Wanderer, bekennender Bewohner der Provinz: Ernst Cassirer traf auf Martin Heidegger.
Letzterer wusste, wo der wunde Punkt seines Gegners lag. Dieser, Verfasser einer mehrbändigen „Philosophie der symbolischen Formen“, habe sich, so Heideggers Vorwurf, in den Nischen der Kultur behaglich eingerichtet, wo er Halt und Geborgenheit finde. Der moderne kritische Autor von „Sein und Zeit“ hingegen will das Dasein vor seine ursprüngliche Nacktheit und Geworfenheit bringen, den Boden zu einem Abgrund machen. Die Eigentlichkeit des Daseins sei danach ohne Entschlossenheit und Entscheidung, mithin also ohne Ernstfall, nicht zu verwirklichen. Die Debatte in den Schweizer Bergen bringt mustergültig zum Ausdruck, wie sich die tendenziellen Entwicklungen der Moderne zum Ernstfall verhalten: Er soll durch eine Maschinerie der „Daseinsvorsorge“ (Ernst Forsthoff), die als Herzstück den immer stärker ausgebauten Sozialstaat und ein mehr und mehr ausuferndes (Rück-)Versicherungswesen umfasst, möglichst verhindert werden.
Debatte mit Heidegger in den Schweizer Bergen
Schon die Wahrscheinlichkeit seines möglichen Eintritts treibt den sicherheits- und regelverwöhnten Modernen den Schweiß auf die Stirn. Dagegen konnte in vormodernen Gesellschaften der Ernstfall nie auf eine vergleichbare Weise verdrängt werden. Für viele Bewohner in Europa (und erst recht darüber hinaus) blieben Natur- und Hungerkatastrophen über sehr lange Zeiträume hinweg ständige Daseinsbegleiter. Allein der christliche Glaube bemühte sich um dauerhafte Widerlager gegen den ständigen Einbruch von Leid und Tod, konnte aber über geistlichen Trost hinaus meist keine Besserung bewirken.
Nach 1918 hatte sich die bürgerliche Sekurität längst als Fassade entlarvt. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen trugen dazu bei, dieses Gefühl als Teil der „Welt von gestern“ (Stefan Zweig) untergehen zu lassen. Existenzieller Ernst beherrschte auch nach 1918 den härter gewordenen Alltag in allen Bereichen von Staat und Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund konnte der bald zur Berühmtheit gelangte Staatsrechtslehrer Carl Schmitt in vehement umstrittenen Schriften den „Ausnahmezustand“ zur Nagelprobe der Souveränität erheben. Weiter erklärte er die Unterscheidung von Freund und Feind zum Wesen des Politischen, so in seiner 1927 erstmals veröffentlichten Darstellung „Der Begriff des Politischen“.
Thema "Ernstfall"
Zwar ist diese Distinktion nicht als Loblied auf den Krieg zu verstehen, wohl muss dieser aber Schmitt zufolge wenigstens als Möglichkeit vorhanden sein. Ohne sie müsse das Politische verschwinden. Aus einem solchen Vakuum heraus bilde sich konsequent der Weltstaat als Verkörperung ernstfall- und konfliktloser Strukturen par excellence, so Schmitts Sicht. In seiner Nachfolge haben sich einige konservative Denker (von Armin Mohler bis Günter Rohrmoser) des Themas „Ernstfall“ angenommen, ebenso der italienische Denker Giorgio Agamben.
Dass in den 1920er Jahren der Ernstfall in diversen Auseinandersetzungen einen so hohen Stellenwert erhalten hatte, hängt aber nicht nur mit den Nachbeben des gewaltsamen Massensterbens zusammen; zudem zeigte sich weit über die Philosophie hinaus der Einfluss Sören Kierkegaards. Der dänische Schriftsteller wandte sich vor allem gegen Hegels Systemdenken, das zwar so gut wie alles berücksichtigt, jedoch das Existieren des Einzelnen als solchen praktisch ausblendet. Kierkegaard rief die Quintessenz der ethischen Problematik in Erinnerung: Moralische Fragen sind solche, bei denen es ernst wird, weil es sich um existenzielle Fragen handelt.
Der Bürger wird mit seiner Sterblichkeit konfrontiert
Der Ernstfall, so kann man mit Kierkegaard sagen, durchbricht die Normalität und Regelmäßigkeit des Alltags. Allgemein lässt sich diese Situation nicht beschreiben. Nur der Einzelne selbst kann den Eintritt entscheiden, ist also selbst gefordert; nur er kann auf den Kairos abzielen.
Man hat die Weimarer Republik als „Krisenjahre der klassischen Moderne“ (Detlev K. Peukert) charakterisiert, fand sie doch nie dauerhaft zu Ruhe und Normalität. Die Bundesrepublik entwickelte sich hingegen bald zum Hort der Stabilität. Das Wirtschaftswunder trug maßgeblich dazu bei, dass „Mitte und Maß“ zum Leitbild der Bonner Republik avancierte. Selbst Unruhen wie die von 1968 konnten relativ schnell kanalisiert werden. Echte Ausnahmezustände traten folglich nie ein. Der Streit um die Notstandsgesetze erwies sich als ein rein symbolischer. Herrschte in der Schlussphase der ersten deutschen Demokratie von 1930 bis 1933 permanenter Ausnahmezustand, so ist die Bundesrepublik seit sieben Jahrzehnten von Kontinuität geprägt. Selbst die stärkeren Veränderungen Ende der 1960er Jahren fanden weithin auf dem kulturell-sozialen Sektor statt, kaum auf dem politischen. Auch der Wandel nach 1989/90 fiel geringer aus, als damals von vielen befürchtet.
Der Konsens ist zum Kennzeichen der Bundesrepublik geworden
Zu den wichtigen Kennzeichen der politischen Kultur der Bundesrepublik zählte lange Zeit der Grundzug der Entpolitisierung. Wenngleich zuletzt eine stärkere Emotionalisierung und Polarisierung unübersehbar ist, bleibt der Konsens ein Wesenszug bundesrepublikanischer Realität. Diverse Regierungswechsel haben daran nichts verändert.
Tatsache ist, dass Vorgabe von Alternativlosigkeit, technokratische Tendenzen und ein bisweilen abgehobenes Establishment in Medien und Politik maßgeblich verantwortlich sind für Gegenreaktionen: Populismus von links und rechts indiziert Unzufriedenheit mit Entscheidungen, die allzu selbstherrlich, unkritisch und partiell auch ohne gesetzliche Grundlage getroffen werden. Gerade die Debatten um Migration können ein existenzielles Moment nicht verbergen. So geht es diesbezüglich vor allem um die Funktionsfähigkeit von Rechts- und Sozialstaat, die schon aufgrund der (auch für den Staat) begrenzten Mittel sehr wohl eine Obergrenze kennt.
Doch selbst den so symbolträchtigen Beschlüssen von 2015/16 fehlt genau betrachtet das existenzielle Grundmerkmal: Dieses basiert auf Entscheidungen, die nur über die Wahlmöglichkeit zwischen Leben und Tod, Sein oder Nichtsein verfügen. Es spielen diese Differenzierungen für das Individuum schon deshalb eine unausweichliche Rolle, weil es sterblich ist. Auf der kollektiven Ebene waren es in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts vornehmlich Entscheidungen zugunsten von Kriegen, die für Millionen den Verlust des Lebens nach sich zogen. Mit dem Coronavirus und seinen medizinischen wie gesellschaftlichen Folgen ist ein Ausnahmezustand zurückgekehrt, den Europa lange nicht mehr erlebt hat.
Der Tod lässt wieder eine kollektive Dimension erkennen, die er lange Zeit nicht mehr hatte. Der Wohlstandsbürger wird mit seiner Endlichkeit konfrontiert, was umso schmerzhafter ist, als er üblicherweise keine transzendente Absicherung mehr kennt. Wie sich diese Rückkehr in gesellschaftlicher Hinsicht auswirkt, steht derzeit noch in den Sternen.
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