Usedom

Zartes Tongewebe, filigran in Notenschrift gesetzt

Hänsel und Gretel: Wer kennt das Märchen nicht? Und beinahe jeder kennt auch die berühmte Oper von Engelbert Humperdinck. Jetzt wurde, passend zum 100. Todestag des Komponisten, ein bisher unbekannten Klavierstücks im Poesiealbum seiner Schwester entdeckt.
Noten von Humperdinck
Foto: picture-alliance, Jens Büttner (dpa-Zentralbild) | Die Komposition «Erinnerung» von Engelbert Humperdinck (1854-1921) aus dem Jahr 1871, die der Künstler seiner Schwester Ernestine in einem Poesiealbum hinterließ.

Es ist eine Geschichte wie aus dem Bilderbuch. Meeresrauschen, tosende Wellen, eine Trauminsel und ein wiederentdecktes Musikstück, das außer der Widmungsträgerin vermutlich noch nie jemandem zu Gesicht gekommen oder zu Gehör gebracht worden ist. Der Komponist des kleinen, klangschönen, in seiner Tonsprache ein wenig an Chopin oder Schubert erinnernden Werkes ist Engelbert Humperdinck, dessen 100. Todestag die Musikwelt in diesem Jahr feiert. Geschrieben hat der Komponist es für seine Schwester Ernestine.

Es ist ein kleines, privates Oeuvre, ein zartes Tongewebe, in filigraner Notenschrift aufgezeichnet in dem Poesiealbum der jungen Frau. Da die zwei Jahre jüngere Ernestine mit nur 17 Jahren an Tuberkulose starb, kann die Datierung mit einiger Sicherheit vorgenommen werden. Es scheint, dass dieses kleine Opus die Spuren von Engelbert Humperdincks eigenem musikalischen Findungsweg trägt. Denn zu diesem Zeitpunkt studierte der junge Mann noch nicht Musik und macht doch hörbar, mit welchen Klangwelten er sich beschäftigte und an welchen Meistern er sich bei der Bildung seines eigenen Stils orientierte.

Das Frühwerk ist nahezu vollkommen verloren

Dass passend zum Humperdinck-Gedenkjahr ein Musikstück auftaucht, das genau 150 Jahre alt ist, ist eine kleine Sensation. Denn das Frühwerk des Komponisten, der durch seine keineswegs nur von Kindern geliebte Oper „Hänsel und Gretel“ mit dem berühmten „Abendsegen“ bekannt wurde, ist aufgrund eines Speicherbrandes nahezu vollkommen verloren. Das neue, auf einer Pressekonferenz auf der Insel Usedom durch den Komponisten Hinrich Alpers vorgetragene Werk ist somit die Zweitjüngste der Kompositionen Humperdincks. Der wiederum hatte eine enge Verbindung zu der Ostseeinsel, die bis ins Jahr 1906 zurückreicht.

Denn zu diesem Zeitpunkt mietete sich der Tonkünstler gemeinsam mit seiner Frau und einem Stapel Entwürfe im Haus Meeresstern ein, um an seiner Schauspielmusik für Shakespeares Bühnenstück „Der Sturm“ zu arbeiten. Das Ambiente könnte nicht passender sein. Das Haus liegt direkt am Meer und Humperdinck hatte Gelegenheit genug, die vielen Facetten stürmischen Wetters zu studieren. Denn kurz zuvor, zum Jahreswechsel 1904/1905, hatte eine Sturmflut Teile der Insel verwüstet.

Entdeckt vom ehemaligen Chefredakteur der BILD-Zeitung

Dass seine Anwesenheit auf Usedom, seine langjährige Verbindung mit der Insel und sein Kreativhotspot im Haus Meeresstern wiederentdeckt wurden, verdankt die Musikwelt Kai Diekmann. Der ehemalige Chefredakteur der „Bild“-Zeitung erwarb gemeinsam mit seiner Frau im Jahr 2015 das Anwesen und nahm sich mehr als vier Jahre Zeit, um es von Grund auf zu restaurieren. Dabei legte Diekmann nicht nur Wert darauf, die historische Bausubstanz zu erhalten und die Wiedererkennbarkeit der ursprünglichen Strukturen zu gewährleisten, sondern auch die Geschichte des Gebäudes und seiner Bewohner kennenzulernen. Als er auf Humperdinck stieß, war er fasziniert und begann, genauere Nachforschungen anzustellen.

 

„Die Entdeckung der kleinen Komposition
mit dem Namen „Erinnerung“ aber ist eine Sensation“

Die Ergebnisse lassen sich sehen. Denn er brachte nicht nur wieder in Erinnerung, dass hier die Musik zu „Der Sturm“ entstand, mit dessen Aufführung 1906 das neue Schauspielhaus in Berlin, das heutige Metropol, eröffnet wurde. Er vertiefte sich auch weiter in Leben und Werk des Komponisten, der gemeinsam mit Wagner auf dem Grünen Hügel in Bayreuth an einer „Tannhäuser“-Inszenierung arbeitete und ersteigerte schließlich das auf einer Auktion angebotene Poesiealbum der Schwester des Komponisten. Dessen Fund ist für sich genommen schon ein bemerkenswerter Baustein für das Verstehen des familiären Umfeldes Humperdincks.

Die Entdeckung der kleinen Komposition mit dem Namen „Erinnerung“ aber ist eine Sensation. Diekmann schickte ein Foto davon an den Komponisten Hinrich Albers und erhielt 45 Minuten später ein Video mit der Einspielung des Werkes. Bereits 2019 hatte Diekmann bei einer Begegnung mit Clemens Trautmann, dem Chef der Deutschen Grammophon, bei einer „Tannhäuser“-Premiere in Bayreuth darüber gesprochen, dass 2021 ein ideales Jahr für einen neuen Fokus auf Leben und Werk Engelbert Humperdincks sein würde. Trautmann war begeistert, denn sein Label hatte die Rechte an der ersten und einzigen Einspielung von Humperdincks Schauspielmusik zu „Der Sturm“ und entwickelte die Idee, ein Album zu kreieren, das Leben und Werk Humperdincks gleichermaßen spiegelte.

Eine Faszination für Märchen und Mythen

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Was könnte idealer sein, als die Kammerfassung des Tristanvorspiels für Streicher und Klavier in eine solche Präsentation zu integrieren, da Humperdinck eng mit Wagner und Bayreuth verbunden war. Dessen Einfluss, so Trautmann, ist in den Werken Humperdincks deutlich spürbar. Da ist nicht nur das Spätromantisch-Schwelgerische, auch die Faszination für Märchen und Mythen teilten die beiden Komponisten der Romantik. Das neue Klavierwerk wird ebenfalls Teil der Einspielung sein und ist darüber hinaus auch auf verschiedenen Streamingdiensten wie Spotyfy oder Apple music hörbar. Eine Uraufführung vor Publikum soll es, so hoffen Hinrich Alpers, der künstlerische Leiter der Humperdinck-Festtage auf Usedom, im September stattfinden.

Eröffnet werden die Festtage vom 3. bis 5. September im Dreikaisersaal und der Kirche im Walde stattfindenden Musiktage mit einer Filmvorführung jener Version von „The Tempest“, in der Helen Mirren die weibliche neustrukturierte Rolle des Prospero spielt. Neben konzertanten Veranstaltungen und dem Musikgespräch auf Usedom unter anderen mit Kai Diekmann wird es auch Corona-konforme Spaziergänge auf den Spuren des Komponisten geben.

Der Intendant des Musikfestes Usedom, Thomas Hummel, ist dankbar, dass der über 600 Sitzplätze bietende Dreikaisersaal dem Festival ohne zusätzliche Kosten zur Verfügung gestellt wird, denn das Festival muss sich frei finanzieren. Für die exklusiven Veranstaltungen an den drei Tagen in Heringsdorf wird ein limitiertes Kontingent an GALA-Tickets mit besonderen Plätzen angeboten, die telefonisch unter 03 83 78-3 46 47 oder online unter www.humperdinck-festtage.de buchbar sind.


Das komplette Programm ist unter www.humperdinck-festtage.de einsehbar.

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Barbara Stühlmeyer Hinrich Alpers Kunst- und Kulturfestivals Mythen

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