Tagesposting

Würze liegt in Kürze

Mit wenigen Worten ist alles gesagt.
Moses
Foto: Mel Longhurst, imago-images | Gottes zehn Gebote auf zwei Schrifttafeln in der Hand des Moses: Knapp und präzise kommen die Sätze zum Punkt. Heute füllen die Rechtstexte der Gesellschaft Bibliotheken und sind dennoch meistens nicht präziser.

Diese Glosse hat 3 100 Zeichen, inklusive Leerzeichen. Das ist der von der „Tagespost“ vorgegebene Rahmen, der mir völlig ausreicht. Ja, mehr wäre weniger. Eine Glosse darf polemisch, sollte ironisch und muss unbedingt ein wenig witzig sein; dadurch ist sie unterhaltend. Neidvoll muss man hier anerkennen, dass die Kolumne „Streiflicht“ der „Süddeutschen Zeitung“ in all diesen Hinsichten unerreicht ist. Noch knapper und deshalb schärfer zugeschnitten ist der Aphorismus, ein in sich geschlossener Sinnspruch; man denke nur an Lichtenberg und Nietzsche.

„Deshalb eignen sich die kurzen Formen
auch als intellektuelles Versteck,
in dem man Meinungen unterbringen kann,
die die Politische Korrektheit auf den Index gesetzt hat“

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Wer daran Gefallen findet, kann heute noch einen Schritt weitergehen, nämlich zu Twitter, einem sozialen Medium, bei dem der Autor, den Luther „Herr Omnes“ nannte, ursprünglich nur 140 Zeichen zur Verfügung hatte – gerade genug, um einen etwas längeren Satz zu formulieren und in diesem einen Satz die Wahrheit unterzubringen. Man könnte das mit Kierkegaard „Interjektionsstil“ nennen. Die Wahrheit in einem Satz ist ein Aufblitzen. Deshalb eignen sich die kurzen Formen auch als intellektuelles Versteck, in dem man Meinungen unterbringen kann, die die Politische Korrektheit auf den Index gesetzt hat.

Tweet, Aphorismus, Glosse, Essay – im Gegensatz zum schulmäßigen Systemdenken sind das experimentelle, quicklebendige Formen, die zum Denken anregen, statt es vorzuschreiben. Sie sind auch dadurch freundlich gegenüber dem Leser, dass sie ihn nicht dazu verurteilen, sich durch Hunderte langweiliger Seiten zu quälen. Denn gerade die Großautoren neigen ja dazu, ihre Leser zu einer Disziplin zu verpflichten, die Schopenhauer in aller Offenheit ausgesprochen hat: Wer mich verstehen will, muss alles von mir lesen. Die kurzen Formen dagegen nehmen Rücksicht auf die kostbare Lebenszeit des Lesers: Das Leben ist kurz, und deshalb sollten auch die Texte kurz sein.

Am prägnantesten ist die Schlagzeile

Eine klassische Kurzform ist das Lapidare, wörtlich: das wie in Stein Gemeißelte, also ein absolut sachlicher, ornamentloser Stil. Ähnliches gilt vom lakonischen Stil, dessen Wortkargheit aber von einem Misstrauen in die Wahrheitsfähigkeit der Sprache herrührt. In jedem Fall aber geht es bei den kurzen Formen um Pointiertheit und Prägnanz. Pointierter als die Nachrichten sind die Kurznachrichten. Prägnanter als der Bericht ist die Schlagzeile – man erinnere sich nur an die Schlagzeile der Bild-Zeitung: „Wir sind Papst“.

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Jede politische Diskussion lebt von der scharfen These, jede Rede von der komprimierenden Kraft der Anekdote. Und auch in den wissenschaftlichen Darstellungen wird die knappe Form, das „Abstract“, immer wichtiger. So hat der Philosoph Odo Marquard die „Ultrakurzgeschichte“ als neues Genre entwickelt und zu seinem Markenzeichen gemacht, nämlich umfangreiche, gelehrte Werke seiner großen Kollegen auf witzige und äußerst unterhaltsame Weise mit wenigen Strichen auf das Wesentliche zu reduzieren. Hier wird auch die polemische Dimension der kurzen Formen deutlich: Ihre Pointen und ihre Prägnanz kämpfen gegen das Geschwätz.

Doch genug, meine Glosse nähert sich schnell dem Ende. Es bleiben nur noch wenige Zeichen – finis

 

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