Die massiven Kirchenaustritte in den vergangenen Jahren sind für die christlichen Kirchen zum existenziellen Problem geworden. Die Gründe sind vielfältig. Viele Deutsche sind glaubensunfähig oder definieren sich selbst als atheistisch. Andere sind schockiert von den Missbrauchsskandalen. Wieder andere wollen einfach nur die Kirchensteuer sparen.
„Die uns so vertraute Rede von Menschenrechten, Demokratie, Freiheit und Individualismus
ist alles andere als voraussetzungslos. Das sind verweltlichte Begriffe des Christentums“
All das ist seit langem bekannt – und trivial. Interessant ist aber, wie die christlichen Kirchen darauf reagieren. Seit Jahren beobachten wir hier ein Green-Washing: Die Kirchentage unterscheiden sich nur noch in Nuancen von den Parteitagen der Grünen. Und in letzter Zeit ist auch noch ein Woke-Washing der christlichen Kirchen hinzugekommen, das heißt sie verstehen sich zunehmend als Lautsprecher einer Tyrannei der Wehleidigen. Dass die „Woken“ sich mit den Verlierern, mit den Erniedrigten und Beleidigten dieser Welt identifizieren, könnte man als ein Stück säkularisierten Christentums verstehen: Opfer sein als Quelle der Stärke. In der „woken“ Jugendbewegung präsentiert sich diese Arroganz der Schwachheit allerdings als ein aggressiver, selbstgerechter Moralismus.
Die Reaktionen der christlichen Kirchen auf die schwindende Nachfrage nach Christentum haben also einen einfachen gemeinsamen Nenner: die Anbiederung an den Zeitgeist. Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie sich für einen Weg entscheiden werden, den Papst Benedikt XVI. für den Fall, dass die Kirche weiter atrophiert, in aller Klarheit vorgezeichnet hat: zurück zur glaubensstarken Sekte.
Religiöses Bedürfnis sucht sich neue Kulte abseits der Kirche
All das bedeutet aber nicht, dass unsere Gesellschaft ohne Religion funktionieren würde, im Gegenteil. Das religiöse Bedürfnis bleibt konstant, es sucht sich aber neue Kulte. Wir haben es heute mit einer frei flottierenden Religiosität zu tun, die gerne auf Angebote von Ersatzreligionen anspricht. Da gibt es einerseits die neuheidnischen und fanatischen Sekten, andererseits die bunten, unverbindlichen Versatzstücke einer Boutique-Religiosität. Schon der marxistische Messianismus, der in der Studentenbewegung der 68er wiedererwachte, war ja eine solche Ersatzreligion. Nachdem die Erlösung durch Gesellschaft ausblieb, haben sich dann viele dem grünen Gaia-Kult zugewandt, der heute mit „Degrowth“ Tugendhaftigkeit durch Verarmung predigt – auch das ist ein Stück säkularisiertes Christentum.
Was an solchen Phänomenen deutlich wird, ist, dass es auch ein Christentum ohne Christenheit gibt. Und das war es wohl, was Nietzsche den Schatten des toten Gottes nannte.
Unsere Kultur ist vom Christentum geprägt
Nietzsche hat das natürlich kritisch gemeint. Aber man kann es auch positiv deuten: Das Christentum prägt unsere Kultur auch dann noch, wenn es kaum mehr Menschen gibt, die sich zu ihm bekennen. Am deutlichsten wird das am Universalismus der Menschenrechte. Die uns so vertraute Rede von Menschenrechten, Demokratie, Freiheit und Individualismus ist alles andere als voraussetzungslos. Das sind verweltlichte Begriffe des Christentums. Sie bilden den dogmatischen Kern dessen, was man heute Zivilreligion nennt – das Glaubensminimum, das unsere Gesellschaft zusammenhält.
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