Er stammt aus einer Zeit, als sich die Literatur noch auf die Fahnen geschrieben hatte, das Dasein als Ganzes zu deuten: „Faust I.“ Obwohl die Tragödie vermeintlich nur von einem speziellen Einzelschicksal, dem oft als titanisch beschriebenen, titelgebenden Gelehrte erzählt, gilt sie doch zu Recht als Menschheitsdrama. Um nicht mehr und nicht weniger als die Frage, „was die Welt / Im Innersten zusammenhält“, geht es. Faust wird sie erst spät beantworten können; erst nachdem er einen Weg voller Irrungen durchlaufen und – vom Teufel Mephisto verführt – gar ein unschuldiges Mädchen geschwängert und zur Kindsmörderin gemacht hat.
„Skepsis ist angebracht. Derartige Korrekturen können zu der Kraft gehören,
die stets das Gute will und häufig das Böse schafft.“
Dass er trotz all seiner Sünden im zweiten Teil Erlösung findet, erklärt sich nur durch sein unentwegtes Streben. Er verkörpert den ewig Unstillbaren und damit, wenn man es modern sagen will, das Ideal lebenslangen Lernens. Gerahmt wird seine Tour d‘horizon von einem göttlichen Plan. Denn nur weil die höchste metaphysische Instanz seinem diabolischen Widerpart erlaubt, Fausts Fehlerhaftigkeit auf die Probe zu stellen, kann der Schalk überhaupt frei verfahren. Gott weiß eben: Das Gute wird siegen, es braucht aber auch das Böse auf der Erde, um sie in Bewegung zu halten.
Diese und viele weitere Grundüberlegungen haben dem Werk der Weimarer Klassik seit Jahrzehnten seine unbestreitbare Position im deutschen Schulkanon gesichert. Nun scheint das Stück seinen Rang einzubüßen. Gerade das Bildungsvorzeigeland Bayern streicht die Lektüre schlechthin aus dem Pflichtlehrplan. Zwar dürfen die Pädagogen den Text noch behandeln, sie müssen es aber nicht mehr. Begründet diese Entscheidung des Kultusministeriums einen Aufschrei?
Warum ein solcherart grundlegendes Werk streichen?
Ja und nein. Kritik ist insofern angebracht, als dass „Faust I“ in anschaulicher Weise die großen Sinnfragen stellt und wichtige Impulse für die europäische Entwicklung und die Idee der Integration des Menschen in eine transzendente Ordnung gibt. Klar, das tun auch andere Dramen, aber Goethes reflexiver Anspruch ist an Totalität kaum zu überbieten. Also warum streichen? Darüber lässt sich nur spekulieren.
Nahe liegt die auf den ersten Blick nicht ganz von der Hand zu weisende chauvinistische Grundaussage: Faust, der Vergewaltiger, triumphiert, Gretchen, die tugendhafte, muss hingegen geopfert werden, so die feministische Kritik. Aber sollte man dann nicht gerade eine adäquate Diskussion über Geschlechterethik an diesem Text vornehmen? Sollte man sich nicht dem Problem offensiv stellen, als es zu verdrängen? Und überhaupt: Wer so argumentiert, müsste einen Großteil des Kanons – angefangen von Lessings „Emilia Galotti“ bis Kafkas „Der Prozess“ – bereinigen.
Zu befürchten: Eine Absenkung des Bildungsniveaus
Ein Gutes hat aber eine Neujustierung des Lehrplans: Viele bislang in der männlich dominierten Literaturgeschichtsschreibung marginalisierte Autorinnen könnten nun endlich den nötigen Raum bekommen. Man denke nur an Sibylla Schwarz, Christine Lavant oder Hermynia Zur Mühlen. So oder so bleibt zu hoffen, dass das nicht unbedeutende Reförmchen am Ende doch nicht zu einer weiteren Absenkung des Bildungsniveaus an deutschen Schulen führt. Doch Skepsis ist angebracht. Derartige Korrekturen können zu der Kraft gehören, die stets das Gute will und häufig das Böse schafft.
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