Bevor die Hagia Sophia in den letzten Wochen wieder zur Moschee wurde und bevor man sich nicht schämte, die herrlichen Mosaiken der heiligen Jungfrau mit Tüchern zu verhängen, schrieb Werner Bergengruen kurz nach Kriegsende 1946 eine Novelle über die Kirche der Heiligen Weisheit. Sie trägt die Überschrift „Die Verheißung“ – und ist als ein Dokument der Zuversicht verfasst. Ihr Inhalt ist die Entweihung der lange Zeit schönsten und größten Kirche der Christenheit: der weitruhmstrahlenden“, ja der „engelerbauten“, wie der Dichter sie nennt. Aber die Entweihung wird von einer Verheißung überstrahlt.
Welches Geschehen steht im Hintergrund? Am 29. Mai 1453 war das christliche Konstantinopel an Sultan Mehmed II. gefallen; die Bevölkerung wurde in grauenhafter Weise umgebracht. Ganz Europa geriet in äußerste Erregung. Der Krakauer Domherr und Historiker Jan Dlugosz schrieb mit Entsetzen: „Eines der beiden Augen der Christenheit wurde ausgerissen, eine ihrer beiden Hände wurde abgeschlagen.“
Die Unterwerfungen durch die Osmanen prägen das Klima
Die Christenheit empfand sich in einen Winkel („angulus orbis“) gedrängt, wie Enea Silvio Piccolomini 1454 klagte, der kurz darauf Papst Pius II. wurde, und dieses „Winkel-Trauma“ hielt lange an. Tatsächlich galten die Bedrohung durch das osmanische Reich und die Unterwerfung christlicher Nationen durch rund 250 Jahre und nötigten zu immer erneuten Rufen nach einer schnellstens zu schaffenden pax christiana.
Diese Rufe bildeten ironischerweise die positive Rückseite des tragischen Falls von Konstantinopel: Unter dem Druck des Überlebens traten nunmehr plötzlich eine Fülle von Friedensprogrammen auf den Plan, um die zerstrittenen europäischen Fürsten gegen den gemeinsamen Feind zusammenzuschmieden. Erst der Feind befriedete, was sich aus freien Stücken nicht befrieden konnte. Durch den Donnerschlag von 1453 erwachte ein vielfältiger Handlungswille, der grundsätzliche politische und religiöse Friedensanstöße ernsthaft verwirklichen wollte. Geschichtlich ist freilich zu sagen, dass alle Bemühungen um die politische Einung Europas gegen die Türkengefahr immer erneut bröckelten. Wenig später zerstörten die Reformation und die sich daran entzündenden Konfessionskriege endgültig den Traum einer pax christiana. Im Gegenteil: Für rund 150 Jahre war jede tragfähige, parteiübergreifende religiöse und politische Einigung Europas dahin. Was führt Bergengruen dazu, diese historische Unheilsgeschichte vor damals 500 Jahren aufzugreifen? Er erzählt sie unmittelbar nach Europas Zusammenbruch im Zweiten Weltkrieg. Mag sein, dass er mitten in einer zeitgenössischen Wüste, die noch unüberschaubar war, im Vergangenen etwas sah. Denn die Geschichte birgt Trost.
Erzählen lässt er sie durch einen alten Mann, einen der letzten, die noch als Kinder den „Tag des Unglücks“ mit eigenen Augen sahen; auch sahen, wie der Sultan mit dem Pferd die Stufen zur großen Ikonostase hinaufritt und das Bild der „Wegeweisenden Jungfrau“, der Hodegetria, mit dem Schwert vierteilte und dann seine Gebete verrichtete.
Bergengruen findet Worte der Tröstung
Die Pointe der Geschichte liegt aber anderswo. Der damalige Knabe war mit Großmutter und Diener in die Hagia Sophia geflüchtet, worin sich Tausende von Menschen sammelten; er verlor beide im Gedränge und wurde an einen Nebenaltar mitgerissen, wo ein alter Priester eben aus einer kleineren Ikonostase mit dem Allerheiligsten trat, um es hocherhoben den Menschen zu zeigen. Im selben Augenblick stürzten zwei türkische Soldaten herbei, um ihn niederzusäbeln; er aber ging unbeeilt mit dem Sakrament die Stufen hinab, eine Schwalbe setzte sich auf seine Schulter und eine Rosenranke aus einer umgestürzten Vase blieb an seinem Gewand hängen – so schritt er ruhig auf die nahe Marmorwand zu, die sich vor ihm auftat und ihn aufnahm. Die Soldaten prallten bestürzt an der Wand ab. Seitdem, so die Erzählung, könne man ab und zu das leise Zwitschern einer Schwalbe an dieser Stelle hören, auch geistlichen Gesang – und mehr noch: Dieser Priester werde mit dem Allerheiligsten wiederkommen, wenn die Heilige Weisheit erneut als Kirche eingeweiht sei. „Er wird hervortreten aus dem Mauerwerk, den ungeschändeten Christus in den Händen, und wird den heiligen Leib allen Gläubigen austeilen, und es wird kein Unterschied sein zwischen den östlichen und den westlichen Anbetern des Kreuzes.“
Was an der Novelle wunderbar ist: das Wissen um die unzerstörbare Macht Gottes. Er kann das Verderben umkehren, auch wenn es lange Zeit andauert, auch wenn es ewig scheint. Im Kern des Zerstörten ist etwas Gültiges bewahrt. So die unbesiegliche Hoffnung eines Glaubens, der im Untergang noch den Aufgang verborgen sieht. Was in der Hagia Sophia geschah und zugleich in ihr gerettet wurde, was heute absichtlich mit allen Zeichen eines unerleuchteten Fanatismus wiederholt wird – wird sie davon wirklich getroffen? Oder enthält die Heilige Weisheit einen unbetretbaren Raum, der von den Eiferern nicht erreicht wird? So ist es: Das Evangelium und die darin gründende Kirche bleiben: „Bleiben“ ist das große Wort der Abschiedsreden Jesu, selbst wenn die Zerstörer äußerlich gesehen die Oberhand gewinnen. So kommentiert Bergengruen 1946 mit dem Unheil zu Beginn der Neuzeit das Unheil der zerbombten Städte und der verbrannten Kirchen des 20. Jahrhunderts, ja er kommentiert im Vorhinein die heutigen Geschehnisse vom Juli 2020, als die Heilige Weisheit missbräuchlich zu einer Stätte der Demonstration religiös unduldsamer Macht wurde.
Christus konnte nicht vertrieben werden
Kann man einer solchen Verheißung trauen? In ihrer Tiefe, ja. Ob sie tatsächlich in der künftigen Geschichte offenbar werden wird, lässt sich nicht sagen. Entscheidend ist das andere: Dass Christus, der die Heilige Weisheit selbst ist, nicht vertrieben wurde und nicht vertrieben werden kann.
Bedenken wir noch etwas. Bis heute ist der 29. Mai ein Trauertag in Griechenland. Auch den großen Griechenland-Liebhaber Erhart Kästner schmerzte der Verlust der Hagia Sophia im Jahr 1453 – aber er schrieb dennoch, die Umwandlung des Baus im Jahr 1923 durch Atatürk in ein Museum sei der eigentliche Todestag der Kirche gewesen. Erst dann seien die Gebete verstummt. Selbst danach freilich habe man das göttliche „numen“ als anwesend empfunden, einfach durch die ungeheure Sakralität des Raumes. Aber in einem Museum wird nicht gebetet, es ist toter Raum. Auch diese Überlegung sollte mitbedacht werden, wenn die jetzige Selbstherrlichkeit muslimischer Beschlagnahmung der Hagia Sophia traurig stimmt. Bergengruen gibt jedoch ein noch tröstlicheres Wort mit, und das ist es, was christliches Umdenken vermag: Bis der alte Priester wieder hervortritt, „sollen wir wissen, dass mitten in der geschändeten Kirche ein heimlicher Raum ist, bis zu dem die Entweihung nicht hat vordringen können; ein Raum, darin alle Heiligkeit sich aufbewahrt hat bis an den Tag, da sie wieder wird offenbar werden; ein Raum, da Christus wohnt in Verborgenheit und Geheimnis.“
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