Der Holzbildhauer Marcos Bernardes aus Tiradentes in Minas Gerais war geschockt: Er entdeckte eine von ihm geschaffene Skulptur des Heiligen Franziskus in einer Aleijadinho-Ausstellung im Centro Cultural in Brasília – unter dem Patronat der Bank Caixa Econômica Federal. Er hatte seinen Franziskus mit segnend ausgebreiteten Armen im Jahre 2008 geschaffen. Damals hatte er das Datum und seinen Künstlernamen in den Sockel eingekerbt und die Figur in Rio de Janeiro verkauft. Aber nun war diese Signatur im Holz fein säuberlich weggeraspelt. Und im Katalog stand zu lesen, es handle sich hier um ein Werk des berühmten Barockkünstlers Antônio Francisco Lisboa, genannt „Aleijadinho“. Der solle das Werk in der Zeit zwischen 1781 und 1790 geschaffen haben.
„Eine Unverschämtheit“, fand Marcos. „Für einen Künstler ist ein selbstgeschaffenes Werk fast wie ein eigenes Kind – und es tut weh zu erfahren, dass hier ahnungslose Ausstellungsbesucher betrogen werden.“ Die Skulptur des Heiligen Franziskus, die Marcos für 2 000 Reais (etwa 335 Euro) verkaufte, wäre mehr als 150 000 Reais wert, wenn sie ein echter Aleijadinho wäre.
Trotz seiner Krankheit schuf „Aleijadinho“ große Werke
Myriam Ribeiro, Expertin und Hochschulprofessorin für die Kunstgeschichte des Barock und Rokoko an der Universität in Rio de Janeiro, gelangte zur Überzeugung, dass wohl kein einziges der Exponate in dieser Ausstellung ein authentischer Aleijadinho sei. Der Künstler des 18. Jahrhunderts hatte seine Werke nie signiert. Er trachtete nicht nach Ruhm – schuf seine Figuren und Abbildungen aus tiefer Religiosität – zu Ehren Gottes, zur Andacht und Verehrung.
Die Region von Minas Gerais – der „allgemeine Minen“ – war damals in kürzester Zeit dank Gold- und Eisenerz-Minen reich geworden. Auch Diamanten und Topaz wurden gefunden. Im 18. Jahrhundert stammte wohl 80 Prozent der damaligen Weltproduktion an Gold aus dieser Region. Aber weil den portugiesischen Eroberern ihr Seelenheil an erster Stelle stand, bauten sie hier unzählige, teils prachtvoll ausgestattete Kirchen. Die Baumeister entwickelten den „Barroco Mineiro“. Vom Goldboom finanziert, zimmerten, schnitzten, meißelten und malten die Meister dieses Minas-Barocks unzählige Kunstwerke. Einer von ihnen war Antônio Francisco Lisboa, genannt „Aleijadinho“, das „Krüppelchen“. Eine lepraähnliche Erkrankung machte ihm das Leben schwer, deformierte allmählich seine Gliedmaßen. Trotzdem schuf er unermüdlich einzigartige Werke. Waren bis dahin Heiligenfiguren mehr oder weniger bearbeitete Blöcke gewesen, so wurden sie bei ihm nun lebendig, waren in Bewegung, gestikulierten. Selbst flatterndes Tuch konnte der Künstler aus Holz und Stein holen. In den Kirchen von Mariana, Congonhas und Ouro Preto sind seine Werke zu bewundern.
„Antiquare leben gut – dank der Ignoranz der Sammler“
Zweifellos ließen sich heutige Skulpturenschaffende wie Marcos Bernardes und Elias Layon von diesem Meister inspirieren und schufen Werke in dessen Stil. Der Bildhauer Layon muss immer wieder mal Falschdeklarierungen seiner Werke anzeigen. „Antiquare leben gut – dank der Ignoranz der Sammler“, sagt er. Für die Begehrlichkeit der Kunstliebhaber und Sammler hatte der überaus fleißige Aleijadinho zu seiner Zeit eben viel zu wenig Skulpturen und Reliefs aus Speckstein oder Zedernholz geliefert. Gemäß dem Inventar des französischen Louvre-Kunsthistorikers und Barockfachmannes Germain Bazin zu Ende der 50er Jahre gab es 113 Werke, die mit Sicherheit diesem Barock-Künstlers zugeordnet werden konnten.
Inzwischen hat Márcio Jardim, der einzige offiziell zugelassene Experte Brasiliens, aber schon weit über 400 „echte Aleijadinho“ zertifiziert. Dies schon seit langem mit politischer Unterstützung: Um eine „Brasilidade“, eine nationale Identität zu schaffen, werden auch Werke, die wohl von Schülern und Gehilfen ausgearbeitet wurden, ihm zugeschrieben.
"Religiöse Kunst lässt sich gut zu Geld machen.
Spezialisierte Banden kennen keinen Respekt vor dem heiligem Erbe.
Sie rauben aus Kirchen, Kapellen und Bildstöcken:
Weder Statuen, Leuchter, Monstranzen, Kerzenständer,
noch golddurchwirkte Stolen sind vor ihrem Zugriff sicher."
Schon im 18. und 19. Jahrhundert wurde von Diebstählen aus katholischen Kirche berichtet. Aber der Großteil wurde im 20. Jahrhundert geraubt. Mehr als 60 Prozent des kulturellen Erbes des Bundesstaates Minas Gerais dürfte nicht mehr an seinem Ursprungsort sein, wird geschätzt. Religiöse Kunst lässt sich gut zu Geld machen. Spezialisierte Banden kennen keinen Respekt vor „Patrimônio sacro“ – dem heiligem Erbe. Sie rauben aus Kirchen, Kapellen und Bildstöcken: Weder Statuen, Leuchter, Monstranzen, Kerzenständer, noch golddurchwirkte Stolen sind vor ihrem Zugriff sicher.
Bei den Antiquaren in Brasilien stehen Fälschungen und Raubkunst en Masse. Aber nicht nur da: In der Asservatenkammer der Polizei in Belo Horizonte stehen inzwischen beschlagnahmte Heiligenfiguren jeder Größe zu Hunderten in Reih und Glied, alle mit Schnur und Etikette um den Hals. Darauf sind die Funddaten und die Einschätzung ersichtlich. Diese Devotionalien wurden beschlagnahmt, weil Händler keine Belege für den Erwerb hatten und nicht wussten, woher die Artefakte kamen.
Trübe Aussichten für das historische Erbe des Landes
Am 11. Mai 2020 ernannte der rechtspopulistische Präsident Jair Bolsonaro die Hotel- und Touristikfachfrau Larissa Rodrigues Peixoto Dutra zur neuen Vorsteherin der IPHAN, des Institutes für das Historische und Künstlerische Erbe der Nation. In dieser zum Kulturministerium gehörenden Behörde, die das historische und künstlerische Erbe des Landes bewahren soll, herrscht seither Alarmstimmung. Der Ausverkauf des Landes soll mit dieser Personalwahl nun auch auf den kulturellen und historischen Bereich des Landes ausgedehnt werden, befürchtet die renommierte Zeitung Folha de Sao Paulo. Das Signal ist klar: Es braucht keinen studierten Kunsthistoriker und keinen namhaften Architekten als Chef zum Schutz der Kunstgüter Brasiliens – eine Tourismusexpertin soll es richten. Die IPHAN wurde 1934 vom Kunsthistoriker Rodrigo Melo Franco de Andrade gegründet und er war dann ihr erster Direktor. Er widmete sich mit viel Enthusiasmus der Erhaltung des künstlerischen Erbes Brasiliens. Ihm war auch die Wiederbelebung des Interesses an Antônio Francisco Lisboa und am Barroco Mineiro zu verdanken. Zusammen mit dem Schriftsteller Mário de Andrade und dessen Gruppe der Modernisten begann er, diesen Plastiker ab den 1920er Jahren neu zu entdecken und in der ganzen Welt bekanntzumachen.
Dass die IPHAN eine Behörde bleibt, die sich durchsetzen kann und weiterhin Kulturgut retten wird, ist unter der neuen Führung kaum mehr zu erwarten. Die Aufgabe des Instituts für das historische Erbe soll es nach der Auffassung von Präsident Jair Bolsonaro nun sein, touristische Hot Spots gewinnbringend zu vermarkten. So will er unter anderem die idyllische Kolonialstadt Angra dos Reis mit der Insel „Ilha Grande“ westlich von Rio zusammen mit ausländischen Investoren in ein „brasilianisches Cancún“ mit Hotelpalästen und Shopping-Center verwandeln – zum Entsetzen der Heimatschützer.
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