In den letzten Jahren hat – meist mit Verweis auf die UN-Kinderrechtskonvention, gleichzeitig Vorreiter in anderen europäischen Ländern und Handhabe in einzelnen deutschen Landesverfassungen – die Diskussion über eine Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz an Fahrt aufgenommen. Auch die GroKo macht sich dafür stark. Anlass genug für das „Aktionsbündnis für Ehe und Familie – Demo für alle“ (www.demofueralle.de) eine Fachtagung zum Thema zu veranstalten. Unter dem Titel „Elternrecht versus Staat: Wohin führen ,Kinderrechte‘ im Grundgesetz?“ wurden die Fallstricke, Unschärfen und Untiefen der für das Grundgesetz vermeintlich unumgänglichen Kinderrechte analysiert und diskutiert. Zur Sprache kamen Rechts- und Ingenieurswissenschaftler, Wirtschafts- und Rechtsphilosophen, eine Kinderpsychiaterin und Kindergartengründerin, eine Erzieherin, Mütter und Väter sowie ein Menschenrechtsanwalt.
Juristisch banal, gesellschaftlich brisant
Mit einem umfassenden Blick in die weitverzweigte Problematik machte Jörg Benedict, Professor für Deutsches und Europäisches Privatrecht an der Universität Rostock, zunächst auf die Tatsache aufmerksam, dass die Einführung von Kinderrechten in das Grundgesetz „juristisch banal, gesellschaftlich jedoch brisant“ sei. Juristisch banal, da es sich um eine pleonastische Überformung dessen handelt, was ohnehin im Grundgesetz steht: Da auch Kinder Menschen sind, ist natürlich auch ihre Würde unantastbar. Gesellschaftlich brisant ist es, weil die Anwendung von Kinderrechten in der Praxis die rechtliche Zuständigkeit der Eltern für ihre Kinder beschneidet und so die Einheit der Familie zerstört. Anhand des Films „Capernaum. Stadt der Hoffnung“ der libanesischen Regisseurin Nadine Labaki skizzierte Benedict die Konsequenzen eines den Forderungen des „Club of Rome“ entsprechenden „(Kinder-)Rechts, nicht geboren zu sein“: Der zwölfjährige Protagonist des Films verklagt seine Eltern aufgrund seiner Existenz („Ich will meine Eltern verklagen. Sie haben mich auf die Welt gebracht“) und droht ihnen im englischen Original sogar mit einer Unterlassungsklage („I want them to stop having children“). Das sind längst keine Filmfantasien mehr: In Indien verklagt aktuell der Geschäftsmann Raphael Samuel seine Eltern auf Entschädigung wegen fehlender Zustimmung zu seiner Zeugung.
Benedict illustrierte die Notwendigkeit von staatlicher Fürsorge in vereinzelten Fällen, hob jedoch vor allem die rasant wachsenden Fallzahlen und Kosten staatlicher Inobhutnahme von Kindern in der Bundesrepublik hervor. Letztlich, so Benedict, gehe es bei dem Zugriff auf die Kinder stets um sehr viel Geld – in Unterhaltsfragen, bei Inobhutnahme und bei Rechtsansprüchen auf Betreuung. Die staatlichen Gelder schafften in dem marktwirtschaftlich agierenden Zweig des Sozialwesens und der Fremdbetreuung falsche Anreize, weshalb es sowohl bei der institutionellen als auch bei der privaten Fremdbetreuung zu zahlreichen Fehlallokationen von Schutzbedürftigen komme. Der in Schulen, Kindergärten, Kinderkrippen und auf allen Medienkanälen laufenden Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Kinderrechte gab der Jurist kurz und trocken die summarische Überschrift „Polit-Kitsch“.
Doch so harmlos wie das Vorhaben auftritt, ist es keineswegs. In dem Vorhaben der Bundesregierung sollen vielmehr Eltern und Kinder künftig als separate Rechtssubjekte aufgefasst und der Begriff der Familie als einer Einheit aufgehoben werden, wie es Karl Marx im Kommunistischen Manifest von 1848 forderte. Dreh- und Angelpunkt heute ist dabei der Begriff „Kindeswohl“, denn mit dem Argument des Kindeswohls können der Staat und seine Behörden Besuchszeiten einzelner Elternteile festlegen, die Zuordnung des Kindes zu einem Elternteil veranlassen, aber auch Kinder von ihren Eltern trennen. Entscheidend für das Kindeswohl ist jedoch eine über Jahre durchgehende Kontinuität liebevoller Fürsorge, wie sie staatliche Inobhutnahme nicht garantieren kann. Aus der pädagogischen Praxis berichteten in diesem Sinn die Kinderpsychiaterin und Kindergartengründerin Elke Möller-Nehring und die Erzieherin Elisabeth Suntinger. In der frühkindlichen Erziehung wird seit einigen Jahren von Einrichtungen und Erzieherinnen die Umsetzung des Kinderrechts auf Mitbestimmung und Partizipation gefordert – eine Forderung, deren Umsetzung durch die Aufsichtsbehörden überprüft wird. Dass Kinder im Alter zwischen 1 und 6 Jahren mit Entscheidungen zu Fragen der Hygiene (das Kind soll mitbestimmen, ob es gewickelt werden möchte), der Ernährung, der Einrichtung der Räume, aber auch der allgemeinen Regeln, der Finanz- und der Personalplanung de facto überfordert sind, wird die wenigsten überraschen. Erschreckend ist, mit welchem Eifer und welchem Tempo in der Praxis der Kleinkinderziehung die Auflösung von Geborgenheit und festen Strukturen vorangetrieben werde: Heutige Erzieherinnen in der Ausbildung dürfen nur noch mit „offenen Systemen“ arbeiten, auch in Grundschulen werde bereits die Aneignung des Stoffes durch die Schüler selbst propagiert. Statt fester Bindungen und gemeinsamem Lernen würden Kinderkonferenzen und Kinderparlamente ab dem dritten Lebensjahr vorgeschrieben. Dabei haben, so die Referentinnen, Kinder gar kein Bedürfnis, in allen Belangen des Lebens mitzuentscheiden. Und Erzieherinnen erkennen ihren Beruf nicht mehr wieder, wenn sie zunehmend in die Beobachterrolle gedrängt, vom Kontakt mit den Kindern ferngehalten und stattdessen zu Standardisierungen verpflichtet werden. Diese Entwicklung mache sich auch in anderen Berufsgruppen breit, etwa bei Pflegepersonal und Lehrern. Insgesamt würden durch staatliche Vorgaben mehr und mehr Bezugspersonen von Kindern geschwächt – Lehrer, Erzieher und Eltern, was als unmittelbare Folge der Kinderrechtsdiskussion zu bewerten sei.
Der Philosoph Thomas Stark machte deutlich, dass das Elternrecht als Naturrecht nicht verhandelbar und somit nicht zugunsten der Übernahme elterlicher Pflichten durch den Staat auflösbar ist, auch wenn das Naturrecht der elterlichen Fürsorge derzeit gemeinsam mit dem Recht auf Privateigentum unter Beschuss gerate. Eine Erziehung der Kinder zu intellektueller Reife und Tugendhaftigkeit, wie Thomas von Aquin sie versteht, sei dem Staat gar nicht möglich, da die Grundprinzipien der Erfahrung, des Vorbilds und der konkreten gemeinsamen Lebensweise diesem nicht zur Verfügung stehen. Die Familie bedürfe vielmehr autonomer Rechte, um ihren Beitrag zur Gesellschaft wahrnehmen zu können, weshalb eine Änderung des Steuersystems dringender vonnöten sei als die Einführung von Kinderrechten.
Zugriffe im Namen des Kindeswohls
Auch der Wirtschaftsphilosoph Prof. Gerd Habermann sprach von den problematischen Folgen des Fiskalsozialismus als Haupthinderungsgrund für die Entfaltung von Familien: Zwei Drittel des Einkommens zahlreicher Familien würden vergemeinschaftet, weshalb mehr und mehr Mütter zusätzlich zu den Vätern erwerbstätig seien und in der Folge staatliche Kinderbetreuung von der Kinderkrippe bis zur Ganztagsschule in Anspruch nehmen müssten, selbst wenn sie dies nicht wollten. Die Motivation solch familien- und kinderfeindlicher Politik sei in der Ideologie der totalen Gleichheit aller zu suchen, der auch die zunehmende Abschaffung von Privateigentum, Familie und Privatsphäre dienten. Die Grundsätze der privaten Gerechtigkeit, die das BGB begründen, würden nach und nach durch das Konzept einer sozialen Gerechtigkeit im Sinne einer durch Zwang herbeigeführten radikalen Chancengleichheit aller ersetzt.
Einblicke in die Umsetzung staatlicher Zugriffe im Namen des Kindeswohls gab Rechtsanwalt Laurence Wilkinson von dem Hilfswerk für Rechtsbeistand „International Alliance Defending Freedom“ (www.adfinternational.org). Der Experte auf den Gebieten Religions- und Meinungsfreiheit hat er viele Jahre Erfahrungen in der Verteidigung von Eltern sammeln können, die staatlichen Angriffen auf die Familie ausgesetzt waren. Prominente Beispiele sind Fälle erkrankter Kinder in Großbritannien, Eltern in Norwegen, deren Kinder wegen angeblicher christlicher Indoktrination aus der Familie genommen wurden und der Fall der Familie Wunderlich aus Deutschland, die aufgrund der Entscheidung zum Heimunterricht für ihre Kinder eines Sommers ihr Haus von 33 Polizisten und zahlreichen Sozialarbeitern umstellt sah. In einem aktuellen Urteil vom 10.01.2019 konnte der EuGH in der Inobhutnahme der Kinder keine Menschenrechtsverletzung sehen. Begründung: „Unter Umständen kann es [das Kindeswohl] die Interessen der Eltern aufheben.“ Den genannten Fällen ist gemein, dass die staatlichen Maßnahmen gegen die Eltern kein letztes Mittel waren, sondern prophylaktisch im vermeintlichen Interesse des Kindeswohls angewandt wurden. Die Festschreibung von Kinderrechten in Verfassungen könnte derartige Vorgehensweisen des Staates gegenüber Familien künftig legitimieren.
Hintergrund
Seit einigen Jahren kann in Ländern der Europäischen Union eine Entwicklung beobachtet werden, die sonst nur aus totalitären Systemen bekannt ist: Der Staat greift zunehmend in persönliche Bereiche des Lebens ein, insbesondere in das Leben von Kindern. So genannte Gender-Toiletten an Grundschulen, wie sie unlängst auch in Bayern eingeführt wurden, sind dabei noch vergleichsweise harmlose Possen einer systematischen Umgestaltung der Kindheit. Ernster wird es, wenn der Staat nicht nur in Zeiten von Schule und Kindergarten das Weltbild der nächsten Generation vorgeben möchte, sondern auch nach den Zeiten greift, in denen sich die Kinder in der Obhut ihrer Eltern und der Geborgenheit ihrer Familien aufhalten. Die Kinder seien ihren Eltern nur anvertraut, hieß es etwa jüngst in einer Verlautbarung der Bundesregierung zum Thema Kinderrechte, und man insinuierte dabei nicht etwa von Gott anvertraut, sondern vom Staat. Dazu passt, dass der Koalitionsvertrag der Bundesregierung vorsieht, bis Ende 2019 sogenannte „Kinderrechte“ im Grundgesetz zu verankern.
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