Ein Mann, der Damen in den Mantel hilft oder die Türe aufhält, ist vermutlich konservativ. Eine Dame, die 17-Jährige nicht grundsätzlich schlauer findet als 70-Jährige, die ihre Eltern ehrt und ihre Kinder erzieht, wohl auch. Ein Jugendlicher, der den Großvater ehrlich um seine Meinung fragt und sich unbemerkt von Erziehungsberechtigten in alte Bücher vertieft, ganz sicher.
Als Lebenshaltung lässt sich das Konservative gut beschreiben. Wer Aristoteles eher für einen Philosophen hält als Richard David Precht, wer Veränderung nicht grundsätzlich für Verbesserung hält, wer es gerne hat, wenn Damen und Priester als solche erkennbar sind, der ist wahrscheinlich konservativ. Die Ehrfurcht vor dem Alter und den Alten, ein prinzipieller Respekt vor dem, was anderen Menschen heilig ist, eine Zuneigung zur Kultur und ein Interesse für Geschichte: all das ist konservativ.
„Ideologien steht er tendenziell skeptisch gegenüber“
Es mag konservativer sein, wenn ein Herr Doppelmanschettenhemd, Krawatte und Stecktuch trägt als Jogginghosen und T-Shirt, aber der Kleidungsstil sagt nichts darüber aus, was der Konservative glaubt, denkt oder wählt. Johannes Paul II. galt als konservativ in der Glaubens- und Sittenlehre, war aber innovativer als irgendeiner seiner Vorgänger in der praktischen Wahrnehmung seines Amtes. Benedikt XVI. galt vielen als „erzkonservativ“, ersetzte aber als erster Papst in seinem Wappen die Tiara durch die Mitra, strich seinen Titel als „Patriarch des Abendlands“ und revolutionierte das Papstamt durch seinen Rücktritt. Das alles ist innovativer als die ausgelatschten schwarzen Schuhe von Papst Franziskus.
Der Konservative verabscheut Revolutionen und sogar Konterrevolutionen, missbilligt Kulturbrüche und hat zu Veränderungen einen eher botanischen Zugang: Entwicklungen, meint er, müssten reifen, betreut und begleitet von fachkundigen Gärtnern. Im Privaten wie im Politischen bevorzugt er Entscheidungen, die auf Fachkenntnis und Argumenten beruhen, misstraut überschäumenden Emotionen, Pathos und dem pauschalen Verwerfen von Gewachsenem. Ideologien steht er tendenziell skeptisch gegenüber, weil die Erfahrung zeigt, dass sich die Wirklichkeit allzu stimmigen, geschlossenen Gedankenkonstrukten entzieht. Schnelle Lösungen und umfassende Antworten sind ihm verdächtig. Ebenso alles Radikale und Überhebliche. Zusammenfassend könnten wir sagen, dass das Welt- und Selbstverständnis des Konservativen auf der Einsicht beruht, dass Großvater auch kein Idiot war.
Wer will denn schon alles bewahren?
Und noch immer wissen wir nicht, was er glaubt, denkt und wählt. Er kann Christ, Esoteriker oder Agnostiker sein, kann Platon, Kant oder Hegel bewundern, kann christdemokratisch, national, liberal oder sozialdemokratisch wählen (wenn auch eher nicht Nazis und Kommunisten). Viel spricht dafür, das Konservative mehr für einen Lebensstil zu halten als für eine politische Verortung.
Wenig logisch, doch weit verbreitet ist es, in solchen politischen Etikettierungen Richtungsangaben zu sehen: Manche meinen, der Reaktionäre wolle in eine idealisierte Vergangenheit zurück, der Konservative idealisiere die Gegenwart und der Progressive verwerfe Vergangenheit und Gegenwart zugunsten einer fiktiven Zukunft. Das würde aber nur bedeuten, dass alle drei Idioten sind, denn die Gegenwart hat ebenso wie jede beliebige Vergangenheit Licht und Schatten, Bewahrenswertes und Zu-Überwindendes. Jeder vernünftige Mensch sollte in diesem Sinn reaktionär, konservativ und progressiv sein, denn es gibt Schätze der Vergangenheit, die wir vergaßen und wiederentdecken sollten, aber auch Heutiges, das wir ins Morgen retten wollen. Doch niemand wird behaupten, dass heute alles gut und ideal sei, weshalb auch der Konservative – bei aller Neigung zum Bewahren – sich einer Fortentwicklung kaum verschließt. Wenn Ihnen jemand als reaktionär, konservativ oder progressiv beschrieben wird, handelt es sich wahrscheinlich um Polemik. Sagen Sie einfach: Ach, interessant, und was denkt er?
Als Richtungsangabe sagt all das nämlich nichts darüber aus, was im Kopf eines Menschen so vorgeht. Im beschriebenen Sinn war die Renaissance eine „reaktionäre“ Bewegung, weil sie versuchte, die längst vergessene Antike ins Bewusstsein ihrer Zeit zurückzuholen. Im obigen Sinn entblödeten sich deutsche Kommentatoren im August 1991 nicht, die kommunistischen Hardliner, die durch einen Putsch in Moskau versuchten, den Untergang der Sowjetunion zu verhindern,als „Konservative“ zu titulieren. Bilanzieren wir also, dass das Wort zur Beschreibung politischer Inhalte wenig tauglich ist.
Der brillante österreichische Universalgelehrte Erik von Kuehnelt-Leddihn, der äußerlich konservativ war (ich sah ihn nie ungewaschen und stets vollständig gekleidet), wehrte sich heftig, wenn er als „Konservativer“ vorgestellt wurde. Er sei ein „stockliberaler Rechtsradikaler“, sagte er. Gewiss, um zu provozieren – eine Leidenschaft, die er zu hoher Kunst perfektionierte. Vor allem aber, weil er als unabhängiger, vielsprachiger Weltreisender und Privatgelehrter den ideologischen Krempel vergangener Jahrhunderte gründlich und tabufrei neu sortiert hatte.
Französische Revolution: Mutter aller gottlosen Ideologien
Um Ordnung ins weltanschauliche Chaos zu bringen, bezeichnete er alle ideologischen Kinder der Französischen Revolution als „links“, vor allem die kollektivistischen, gottlosen Ideologien des Kommunismus und des Nationalsozialismus. Die Theorie, dass sich in Kommunismus und Nationalsozialismus „die Extreme berühren“, schien ihm naiv und dumm: „Alle Totalitarismen, alle Kollektivismen, alle Zentralismen, alle Gleichschaltungen und Materialismen, mögen diese ökonomischer, biologischer oder soziologischer Natur sein, gehören der Linken an. Sie sind wahrhaft unmenschlich, denn der Mensch ist das universalste, komplizierteste, vielschichtigste und vielseitigste aller Lebewesen.“
Nach dieser Definition sind alle Nationalismen links, ebenso der materialistische Kapitalismus. Links sind für Kuehnelt-Leddihn die Ideologien der Gleichheit, der Hass auf Minderheiten und Eliten: „Die Vision der Linken zielt auf Gleichförmigkeit: eine Nation mit einem Führer, einer Rasse, einer Sprache, einer Klasse, einem Schulsystem, einem Gesetz, einer Sitte, gleichem Einkommen für alle.“ Weil die Natur selbst Unterschiede schafft, seien alle ideologischen Kinder der Französischen Revolution (wie der russischen von 1917 und der deutschen von 1933) den Weg der Guillotinen, Galgen, Gefängnisse, Gaskammern und Gulags gegangen.
„Falsche Götter werden nicht durch Gottlosigkeit bekämpft,
sondern durch den Lebendigen Gott.“
Das Gegenteil dieses „Linksdralls“ umschrieb dieser im besten Sinne radikale Denker mit diesen Begriffen: Person, Freiheit, Geistigkeit, organisch gewachsene Institutionen, Geschichtsbewusstsein, Transzendenz, Respekt vor Wissen und Erfahrung, Verachtung für Trends und Meinungsumfragen, Autorität und Verantwortung, Disziplin und Tradition. Kuehnelt-Leddihn nannte all das „rechts“.
Entscheidend war für ihn in der geistigen Schlacht aber jedenfalls jene Letztbegründung, der so mancher „konservative“ Politiker heute wohl nicht folgen würde: „Falsche Götter werden nicht durch Gottlosigkeit bekämpft, sondern durch den Lebendigen Gott.“ Kuehnelt-Leddihn teilte Menschen nicht in Konservative und Progressive ein, sondern in solche, „die ihren Schwerpunkt über sich haben“ und jene, „die ihn in sich besitzen“. Er war davon überzeugt, dass der wahrhaft Gottgläubige und der Ungläubige sich „im Grunde völlig fremd“ seien, ja sie stellten „total verschiedene Geschöpfe dar“.
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