Der Universalismus steckt in der Krise. Ihre Vertreter sehen sich der Kritik des „cultural turn“ ausgesetzt, nach dem es nicht mehr möglich sein soll, qua Vernunft oder gar eingedenk einer „menschlichen Natur“ allgemeine Aussagen darüber zu machen, wie sich Menschen verhalten sollen. Alles sei Resultat einer kulturellen Identität und daher abhängig von den besonderen Lebensumständen der handelnden Personen. Mit dieser These im Rücken kann ein und dieselbe Handlung in verschiedenen kulturellen Zusammenhängen ganz unterschiedlich bewertet werden. So kommt es, dass man vor alt-amerikanischen Indianerkulturen den größten Respekt hat, obgleich dort Jahr für Jahr tausende Menschen bestialisch ermordet wurden, um die Götter zu besänftigen, zugleich aber die in diesem Abschnitt der Geschichte in Europa existenten Phänomene wie Inquisitions- und Hexenprozesse scharf verurteilt, obwohl sie vergleichsweise rational geführt wurden und nur einen Bruchteil der Opfer hervorriefen. Nur so lässt sich erklären, weshalb man in Kontext A duldet, was man in Kontext B ablehnt: „cultural turn“.
Wer dagegen etwas einwendet, etwa, dass es einem gefolterten Menschen im Grunde egal sein kann, ob er in Erfurt oder Eritrea gefoltert wird, und daher für Eritrea gelten muss, was für Erfurt gilt, nämlich ein Folterverbot, der setzt sich dem Vorwurf des Kulturimperialismus’ und der Uniformierungsabsicht aus. Wer heute noch darauf hinweist, dass es allgemeinverbindliche ethische Normen gibt, die sich unserer Vernunft erschließen und die somit nicht nur gut und schön, sondern auch wahr sind, muss kluge Argumente anbringen. Zum Glück tut dies einer der Hauptvertreter des Universalismus: Vittorio Hösle. Durchaus kompatibel mit der christlichen Ethik wendet er sich gegen den „sozialen Konstruktivismus“ und billigt Werten eine objektive Geltung zu: „Werte sind etwas Reales“, sagt Hösle, und verweist auf den Wertrealismus des deutschen Grundgesetzes.
Soll nun am deutschen Wesen die Welt genesen? Nein, meint der Philosoph, der in Italien geboren wurde, mit einer Südkoreanerin verheiratet ist und in den USA arbeitet. Gemeint ist, das bestimmte absolute Werte und Normen allgemein gelten müssen. Daneben kann es Raum für kulturellen Pluralismus geben. Also, um ein einfaches Beispiel zu nehmen: Jeder sollte das Recht auf einen Rechtsbeistand haben, wenn er vor Gericht steht. Ob dieser nun eine schwarze oder blaue Robe trägt, eine Perücke oder eine Kopfbedeckung, ob er zehn oder fünfzehn Minuten Rederecht bekommt, ob er dabei steht oder sitzt, das mag das jeweilige kulturell geformte juristische System eigens festlegen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass es ein absolutes Recht jedes Menschen ist, nicht schutzlos dem richterlichen Urteil ausgeliefert zu werden.
Aber gibt es denn die eine Basis der Moralität, auf die sich alle Menschen zurückziehen können? Schwierig, schließlich haben wir es immer mit Menschen zu tun, die bereits kulturell geprägt sind. Gesucht ist also ein kulturübergreifendes Ethos, das es uns ermöglicht, diese Prägung zurückzustellen. Ein solches ist die Goldene Regel.
Die Goldene Regel ist ein Metaprinzip der Moralität, das seit Jahrtausenden in verschiedenen Kulturen und Religionen zu finden ist. Die Goldene Regel ist daher ein besonders wichtiges und wertvolles Prinzip der Verständigung über Kultur- und Religionsgrenzen hinweg. Beispiele aus dem 6.–4. Jh. v. Chr. sind im Konfuzianismus die Regel „Was ihr nicht wollt, dass man euch zufügt, fügt es anderen nicht zu.“ Im Buddhismus lautet sie: „Füge anderen nicht Leid durch Taten zu, die dir selber Leid zufügen.“ Und im Parsismus, das ist die persische Philosophie, die auf Zarathustra zurückgeht, heißt es: „Fügt andern nichts zu, was nicht gut für euch selbst ist.“ Aber auch die griechische Philosophie kennt die Goldene Regel: Thales von Milet, auch 6. Jh. v. Chr., ein Vorsokratiker, sagt: „Wie können wir das beste und rechtschaffenste Leben führen? Dadurch, dass wir das, was wir bei anderen tadeln, nicht selber tun“, und Platon fragt rhetorisch: „Soll ich mich anderen gegenüber nicht so verhalten, wie ich möchte, dass sie sich mir gegenüber verhielten?“. Etwas jünger sind die entsprechenden Goldene-Regel-Varianten des Judentums und des Christentums. Im Buch Tobit, das aus dem 2. Jh. v. Chr. stammt, steht geschrieben: „Was dir selbst verhasst ist, das mute auch einem anderen nicht zu.“ (Tob 4, 15) Bekannt ist dann vor allem auch die Goldene Regel des Matthäus-Evangeliums. Jesus Christus gibt seinen Jüngern und uns auf den Weg: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!“ (Mt 7, 12)
Die Goldene Regel ist aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte und ihres Auftretens in verschiedenen Kulturen und Religionen ein Beispiel für ethische Universalität, und zwar nicht bloß als Möglichkeit oder Absicht, sondern als Tatsächlichkeit. Die Universalität der Goldenen Regel ist nicht allein proklamatorisch, sondern faktisch. Neben der Universalität, die die Goldene Regel auszeichnet, ist die Reziprozität das Wesensmerkmal dieser ethischen Norm. Es geht um Gegenseitigkeit, um eine Beziehung, die wahrgenommen und geachtet werden soll, es geht um ein Sich-Hineinversetzen in den Anderen. Es geht also um Empathie als eine wichtige Voraussetzung für moralisches Urteilen und moralisches Handeln. Gottfried Wilhelm Leibniz meinte dazu, dass „der rechte Gesichtspunkt, um billig zu urteilen, der ist, sich in die Stelle des anderen zu versetzen“.
Andererseits vermag die Goldene Regel mit ihren positiven und negativen Formulierungen zwei Grundaspekte jeder Ethik zu erfassen: Wird in der positiven Form der Goldenen Regel („Verhalte dich dem Anderen gegenüber so, wie du willst, dass er sich dir gegenüber verhält“) kontextualistisches Wohlwollen gefordert, verweist die gerechtigkeitsorientierte negative Fassung („Was Du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu“) auf die kontraktualistisch zu definierenden Grenzen der Eingriffsmöglichkeit in die Sphäre des autonomen Anderen.
Zu diesen gravierenden Argumenten tritt ferner hinzu, dass der Impetus der Goldenen Regel den entscheidenden zivilisatorischen Fortschritt vom Vergeltungsprinzip zum Grundsatz des Wünschenswerten manifestiert. Nicht mehr Gleiches mit Gleichem zu beantworten (nach dem alttestamentlichen ius talionis, also „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, Dtn 19, 21), sondern zu erkennen, dass die Fortschreibung von moralisch falschem Verhalten nur in der empathischen Haltung dem anderen gegenüber durchbrochen und nur in der Bezugnahme auf das Erwünschte überwunden werden kann, stellt eine neue Form des Umgangs miteinander dar, die alle Möglichkeiten friedlich-kooperativen Zusammenlebens eröffnet. Dabei ist auf die Deutung der Goldenen Regel im Sinne des Wünschenswerten zu achten, also darauf, dass man fragt: „Wie hätte der andere gerne, dass ich ihn behandele?“ und nicht „Wie würde der andere mich wohl behandeln?“, denn mit dieser Frage sind wir wieder sehr nahe am Vergeltungsprinzip. Hans-Ulrich Hoche schlägt deswegen folgende Formulierung der Goldenen Regel vor: „Behandele jedermann so, wie du selbst an seiner Stelle wünschtest behandelt zu werden“.
Ein Problem ergibt sich nun, wenn die Goldenen Regel im singulären Fall in einer bilateralen Situation mit fehlender Gleichförmigkeit der Handelnden zur Anwendung kommen soll. Unterschiedliche Interessen und Wünsche scheinen die Anwendbarkeit der Goldenen Regel einzuschränken. Warum, führt uns in besonders eindrücklicher Weise das Fuchs-Storch-Beispiel vor Augen; hier darf man „Fuchs“ und „Storch“ durchaus als Vertreter divergierender Kulturen oder Religionen verstehen.
In der berühmten Fabel Lafontaines lädt der Fuchs den Storch zur Suppe ein und serviert diese auf einem flachen Teller, so dass nur er an die Suppe gelangen kann; der Storch hingegen mit seinem langen Schnabel „kein Bisschen in den Magen bekam“. Hierin sieht Hoche einen möglichen Einwand gegen die Goldene Regel, da sich der Fuchs ja durchaus wünschen kann, für den Fall einer Einladung durch den Storch auch von diesem die Suppe auf einem flachen Teller serviert zu bekommen. So ist die Goldene Regel jedoch nicht gemeint, denn es geht in der Fabel ja darum, dass der Fuchs dem Storch die Suppe in einer für diesen ungeeigneten Weise serviert und der Fuchs von daher damit rechnen muss, vom Storch das Essen in einer für ihn – den Fuchs – analog ungeeigneten Weise vorgesetzt zu bekommen, wie dies bei der Gegeneinladung ja auch geschieht, als der Storch seinem Gast Fleischstücke „in Krügen eingepresst“ serviert, in „langhalsigen und engen“.
Nach Hoche darf man bei der Anwendung der Goldenen Regel nicht die Frage stellen: „Wie würde ich, mit all meinen Eigenschaften, an seiner Stelle behandelt werden wollen?“, sondern man muss sich fragen: „Wie würde ich, mit all seinen Eigenschaften, an seiner Stelle behandelt werden wollen?“ Man muss mithin eingedenk dieser Eigenschaften und ausgehend vom konkreten Sachverhalt auf allgemeine Eignungsbedingungen abstrahieren.
Derart abstrakt und universalistisch verstanden ist die Goldene Regel, wenn sie mit Klugheit und gutem Willen angewendet wird, ein geeignetes ethisches Prinzip, die globale Geltung grundlegender Werte zu erweisen und deren faktische Verbreitung zu befördern. Die Goldene Regel kann im 21. Jahrhundert Spielregel eines interkulturellen Dialogs sein, der zu einem prinzipiellen Konsens im Streit um Werte und Normen führt.
Grundlegend für das universalistische Verständnis von Werten und Normen ist allerdings das Christentum, wie schon Jürgen Habermas im Gespräch mit Eduardo Mendieta feststellte: „Das Christentum ist für das normative Selbstverständnis der Moderne nicht nur Katalysator gewesen. Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeit und der christlichen Liebesethik. In der Substanz unverändert, ist dieses Erbe immer wieder kritisch angeeignet und neu interpretiert worden. Dazu gibt es bis heute keine Alternative.“