Bonn

War der Adel reaktionär?

Der Adel in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts wurde von der Germanistik vernachlässigt.
Bueste von Annette von Droste-Huelshoff im Burggarten von Burg Huelshoff, Deutschland, Nordrhein-Westfalen, Muensterland
Foto: imago images | Annette von Droste-Hülshoff (1797 bis 1848) rang um ihr adeliges Selbstverständnis und gelangte zu einer eigenständigen Position.

Im 19. Jahrhundert bilden sich mit der Industrialisierung und dem Ringen um die bürgerliche Freiheit zwei bis in unsere Tage reichende Umbrüche heraus. Im Mittelpunkt dieser Umbrüche steht bis zum Beginn der Weimarer Republik der Adel als zentrale politische, soziale und wirtschaftliche Macht in einer sich neu formierenden Gesellschaft.

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Urte Stobbe untersucht in ihrem neuen Buch die Rolle des Adels in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, seine Bedeutung und soziale Herkunft, allgemein: „den schreibenden Adel der Literatur“. Sie nähert sich ihrem Forschungsgegenstand aus zwei Perspektiven: einer soziologisch-kulturellen und einer literaturwissenschaftlichen Betrachtungsweise. Als Wegweiser dienen ihr dabei der französische Sozialphilosoph Pierre Bourdieu, einer der bedeutendsten Analytiker seines Faches in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, und der Star unserer Tage, der Kulturphilosoph Andreas Reckwitz, der wegweisende Studien zur Kulturtheorie von der bürgerlichen Moderne bis zur Gegenwart verfasst hat.

Bei Fontane verbindet sich Altes mit Neuem

Die deutschsprachige Literatur ist reich an Autoren, die aus einer Adelsfamilie stammen. Hier seien nur einige Namen genannt: Novalis, Kleist, Chamisso, die von Arnims et cetera. Es liegt nahe, dass diese Adligen sich in ihren Schriften mit ihrem Stand und den Wechselfällen der Zeit auseinandersetzten, in die sie sich geworfen sahen. Aber damit nicht genug,: Unter dem Eindruck rasanter gesellschaftlicher Veränderungen reflektierten sie auch ihre eigene Rolle als schreibende Adlige. Diese Studie fragt, wie haben sie sich als Adlige in der Gesellschaft gesehen und wie haben nicht adlige Schriftsteller den Adel gesehen.

Dieser Kontext deutet die Komplexität des Themas an. Vielleicht liegt hierin auch eine der Ursachen, warum der Adel in den Betrachtungen der Germanistik bis heute nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die Autorin konstatiert eine Neigung der Literaturwissenschaften, Romane, Novellen, Balladen, Gedichte und Bühnenstücke vor allem unter dem Aspekt der Emanzipation des Bürgertums zu betrachten. Der Adel geriet aus dem Blickfeld, weil er gemeinhin als konservativ, restaurativ, also von gestern betrachtet wurde.

„Sie blendete aus, dass es „den“ Adel genauso wenig gegeben hat, wie „das“ Bürgertum.“

Nun ist dem Adel ein gewisser Hang zum Konservativen gewiss nicht abzusprechen. Aber konservativ sein heißt ja nicht, sich der Moderne zu verweigern, rückwärtsweisenden Vorstellungswelten anzuhängen, sondern konservativ sein heißt, wie es Fontane formuliert hat, Altes mit Neuem zu verbinden. Im Übrigen fanden sich auch im aufstrebenden Bürgertum reaktionäre Bestrebungen. Dies galt vor allem für die neureichen „Archivare des Reichtums“, die nicht nur danach trachteten, ihren schnell erworbenen Wohlstand zu verteidigen, sondern auch nobilitiert werden wollten. Nicht wenigen gelang es. Dies zeigt, dass die vernachlässigte Auseinandersetzung zu Rolle und Bedeutung des Adels in der germanistischen Literatur der Stellung des Adels in der Gesellschaft nicht gerecht wurde. Sie blendete aus, dass es „den“ Adel genauso wenig gegeben hat, wie „das“ Bürgertum. Stobbe schreibt: „Von ,dem‘ Adel kann folglich keine Rede sein, sondern immer nur von bestimmten Ausformungen einer sozialen Formation, deren Akteure und Verhaltensweisen beziehungsweise Eigenschaften unter dem Begriff ,Adel‘ zusammengefasst werden.“

Im Mittelpunkt der Analysen stehen Joseph von Eichendorff (1788–1857), Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848) und Theodor Fontane (1819–1898). Aus deren umfänglichen Werken greift Stobbe einzelne heraus, die für den Forschungsgegenstand besonders erhellend sind. Bei Eichendorff ist dies sein Roman „Ahnung und Gegenwart“, bei Droste Gedichte und Balladen, hier vor allem „Das alte Schloss“ und bei Fontane sein Altersroman „Der Stechlin“.

Eichendorff schrieb aus der Perspektive des Adligen

Diese Arbeiten ordnet sie in den Kontext des jeweiligen Gesamtwerkes ein. Nach einer umfänglichen methodischen Einführung und Erklärung ihrer Vorgehensweise analysiert sie die ausgewählten Autoren und Werke in einer literaturwissenschaftlich-hermeneutischen und kultur-soziologischen Betrachtung in drei Kapiteln von jeweils gut einhundert Seiten.

Eichendorff, der Jüngstgeborene unter den ausgewählten Autoren, beansprucht für den Adel eine soziale Führungsrolle auf der Basis tradierter Werte. Als dichtender preußischer Beamter nimmt er eine „überaus traditionsbewusste konservative Haltung“ ein. Seine Texte popularisieren Werte wie Treue, die an alten „Ritter- und Ritterlichkeitsvorstelllungen“ festhalten und dem spürbaren Werteverfall entgegenwirken wollen. Eichendorff erweist sich als Repräsentant des Adels, der gegen seinen Zerfall anschreibt.

Droste hatte ein kritisches Bewusstsein

Die Droste schreibt auch aus einer adligen Grundhaltung heraus. Sie nimmt jedoch im Gegensatz zu Eichendorff eine vorsichtig distanzierte Haltung zum Adel ein. Ihre Balladen und Gedichte zeugen hinter einer verschlüsselten Bildsprache von einem durchaus kritischen Bewusstsein. Als Mitglied des Adels ringt sie mit ihrem anerzogenen Selbstverständnis und versucht eine eigenständige Position jenseits tradierter Rollenerwartungen zu finden. Nicht zuletzt aufgrund dieser selbstreflexiven Haltung überdauert ihr Werk bis heute und zählt weiter zum Literaturkanon.

Theodor Fontane stammte aus einer Berliner hugenottischen Apotheker-Familie. Dennoch bildet die Beschäftigung mit dem Adel in seinem Werk einen Kristallisationspunkt, der sich schon früh ausbildet und bis zu seinem letzten Roman „Der Stechlin“ bedeutsam bleibt. Viele betrachten dieses Alterswerk als Roman über den Niedergang des Adels. Doch das trifft nur in eingeschränktem Masse zu. Fontane beschreibt den Niedergang des Adels. Aber gerade in seinem letzten großen Roman verweist er darauf, dass der Adel auch in Zukunft eine tragende Rolle in der Gesellschaft spielen kann. Diese Rolle sieht er jenseits der politischen Macht in seiner Vorbildfunktion für die neue Zeit, wenn man so will, in einem sozialen Transitorium. Fontane schildert im „Stechlin“ den Adel nicht als reaktionär, sondern als eine herausgehobene gesellschaftliche Gruppe, die erkannt hat, dass ihre Zeit abläuft. Dies gilt insbesondere für den alten Baron Stechlin, aber auch für andere Figuren des Romans. Sie zeichnet ein zukunftsoffener Konservatismus aus. Sie loten aus, was vom Bisherigen für die Zukunft erhaltenswert ist und was an Neuem dazu kommen muss. Stobbe spricht deshalb von einem „Schwellenzeitroman“.

Das ebenso anspruchsvolle wie bemerkenswerte Buch ist nicht nur eine lohnende Lektüre für Fontane-, Droste- und Eichendorff-Liebhaber. Es zeigt exemplarisch auf, dass es sich bei der Adelsthematik in der Literatur im 19. Jahrhundert in Deutschland um ein zentrales, aber vernachlässigtes Phänomen handelt.

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Urte Stobbe: Adel (in) der Literatur. Semantiken des „Adligen“ bei Eichendorff, Droste und Fontane. Hannover 2019 (Wehrhahn Verlag), 496 Seiten, ISBN-13: 978-386525-690-4, EUR 38,–

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