Der 2019 verstorbene Winfried Pilz war zu Lebzeiten bekannt als fortschrittlicher Jugendseelsorger, als Verfasser des religiösen Schlagers "Laudato si, o mi Signore" und langjähriger Präsident des Kindermissionswerks "Die Sternsinger". Als unlängst bekannt wurde, dass gegen ihn Vorwürfe mehrfacher sexueller Übergriffe auf Schutzbefohlene erhoben werden, hätte man denken können, schon allein der Bekanntheitsgrad dieses Kirchenmannes – und erst recht der Umstand, dass die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen über Jahrzehnte hinweg den Schwerpunkt seiner Tätigkeit bildete – würde diesem Fall erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit sichern.
„Diese Fälle machen jedoch deutlich, dass es kurzsichtig und sogar gefährlich wäre,
sexualisierte Gewalt in der Kirche allzu einseitig mit einer sakralen Überhöhung
des Priesterbildes in Verbindung zu bringen“
Tatsächlich machte der Fall Pilz einige Schlagzeilen, aber schon bald konzentrierte die Berichterstattung sich weitestgehend auf die Frage, ab wann Kardinal Woelki von den Anschuldigungen gegen Pilz gewusst habe und wie er mit diesen Informationen umgegangen sei. Das Interesse am eigentlichen Missbrauchsgeschehen trat demgegenüber auffallend in den Hintergrund.

Diese eigentümliche Schwerpunktsetzung der Berichterstattung mag damit zu tun haben, dass der Fall Pilz sich nicht so recht mit einem gerade im Kontext des "Synodalen Weges" forcierten Narrativ über missbrauchsbegünstigende Strukturen in der Kirche in Einklang bringen lässt: Ein "überhöhtes Priesterbild" – so heißt es wieder und wieder in Gutachten, in Stellungnahmen von Bischöfe, Journalisten und Sprechern von Laieninitiativen – schaffe die Voraussetzungen für Missbrauch wie auch für dessen Vertuschung. Sofern damit gemeint ist, dass eine überzogene Vorstellung von der unantastbaren Autorität des Priesters dazu führen kann und in vielen Fällen dazu geführt hat, dass Täter geschützt werden und Opfern kein Glauben geschenkt wird, ist diese Einschätzung kaum von der Hand zu weisen.
Ein Angriff auf den sakramentalen Charkter des Priesterbildes
Die Rede von der Gefährlichkeit eines "überhöhten Priesterbildes" kann indes auch dazu beitragen, den sakramentalen Charakter des Priestertums insgesamt ins Zwielicht zu rücken oder auch dazu, zu insinuieren, vor allem solche Priester, die in ihrem Selbstverständnis den sakramentalen Charakter ihres Amtes besonders betonen, seien des Missbrauchs zu verdächtigen. Die letztere Annahme lässt sich hier und da sogar in Aktenvorgängen zu ungeklärten Missbrauchsanschuldigungen oder -verdächtigungen beobachten, die in den von verschiedenen deutschen Diözesen in Auftrag gegebenen Missbrauchsgutachten dokumentiert sind.
Dagegen steht der 1940 geborene und 1966 geweihte Winfried Pilz geradezu exemplarisch für eine Priestergeneration, die sich in ihrem Selbstverständnis dezidiert von einer sakral überhöhten Auffassung des Priesteramts abgrenzte: Unter dem Motto "Abschied von Hochwürden" – so der Titel eines Bestsellers aus dem Jahr 1969 strebte diese sogenannte "Konzilsgeneration" an, die in der öffentlichen Wahrnehmung mit dem Priesterberuf verknüpfte "Weltferne" und damit auch die Distanz zu den Laien zu überwinden, den Gemeindemitgliedern darunter gerade auch den Jugendlichen – "auf Augenhöhe" zu begegnen, sich ihnen als zugewandt und nahbar zu präsentieren.
Von Schuldbekenntnis, Einsicht oder gar Reue keine Spur
Als Diözesanjugendseelsorger im Erzbistum Köln und Rektor der Jugendbildungsstätte Haus Altenberg entwickelte Pilz innovative Konzepte kirchlicher Jugend- und Sozialarbeit und stand im Ruf, "ein Herz für Menschen am Rande" zu haben. Eine im Deutschlandfunk veröffentlichte investigative Reportage von Christiane Florin und Raoul Löbbert legt indes nahe, dass es Pilz gerade dadurch gelang, junge Männer emotional und existenziell von sich abhängig zu machen, um sie dann sexuell zu missbrauchen. Im Jahr 2014 war auf einer Mauer von Haus Altenberg der Satz "Winfried Pilz hat mich zur Hure gemacht" zu lesen.
Was genau hatte sich in dieser angesehenen Einrichtung abgespielt, während Pilz dort Rektor war? Bezeichnend für Pilz eigene Sicht der Dinge ist das bei Florin und Löbbert zitierte Protokoll einer Befragung durch den damaligen Personalchef des Erzbistums Köln, den heutigen Weihbischof Ansgar Puff, aus dem Juni 2012: Die darin angesprochenen Vorwürfe sexuell grenzüberschreitenden Verhaltens räumt Pilz im Wesentlichen ein, spielt sie aber gleichzeitig herunter ("Ja, das passiert dann halt schon so mal") und erweckt insgesamt den Eindruck, er sei angesichts der gegen ihn erhobenen Anschuldigungen zwar peinlich berührt ("Aber wollen wir da jetzt wirklich weiter im Detail drüber reden? Das ist mir etwas unangenehm"), sich aber letztlich keiner Schuld bewusst: Vielmehr stellt er es als ganz normal dar, "dass es zwischen jungen Männern und Priestern doch etwas unbefangener zugeht".
Ablasshandel mit der Staatsanwaltschaft
Ob Winfried Pilz tatsächlich – wie sein Verhalten in dieser Befragung es nahezulegen scheint – der Überzeugung war, die ihm zur Last gelegten sexuellen Übergriffe seien gewissermaßen "nicht der Rede wert", wird dahingestellt bleiben müssen. Darin, dass gerade sein "progressives" Image dazu beitrug, seine sexuellen Verfehlungen zu ermöglichen und zu decken, ist Pilz jedenfalls kein Einzelfall.
Ende 2020 berichteten zuerst die deutsche Abteilung der "Catholic News Agency" (CNA), dann auch der Deutschlandfunk über den Fall eines nur als "Pfarrer F." identifizierten Priesters aus dem Erzbistum Köln, der nach mehreren Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen und einem offenbar gegen Geldzahlungen eingestellten Strafverfahren zunächst in den vorläufigen, 2004 dann in den endgültigen Ruhestand versetzt, von 2011 bis 2013 aber unter der Auflage, sich von Kindern fernzuhalten, in einer Pfarrei im Umland von Köln als "Ruhestandsgeistlicher" eingesetzt wurde.
Mit der Distanz zu „Rom“ zu kokettieren bringt Sympathien
Der Priester war auch als Buchautor prominent und verstand es offenbar über Jahre hinweg, seiner Gemeinde wie auch der breiteren Öffentlichkeit zu suggerieren, die vom Erzbistum gegen ihn verhängten Disziplinarmaßnahmen seien Schikanen einer reaktionären Bischofsleitung wegen seiner progressiven Anschauungen zu denen es etwa gehörte, dass er die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. als "rückständig" kritisierte und die Lehre vom göttlichen Ursprung der Kirche bestritt.
Ein ähnliches Bild ergibt sich in einem Fall, über den der Kölner Stadtanzeiger im April 2021 berichtete: Hier ging es um einen Priester aus dem Bistum Limburg, der, obwohl er seit 2010 als Missbrauchstäter aktenkundig war, 2014 einen Lehrauftrag an der Katholischen Fachhochschule NRW in Köln erhielt und ab 2015 auch aushilfsweise in einer Kölner Innenstadtpfarrei Messen zelebrierte – wobei er sich "wegen seiner aufgeschlossenen, eloquenten Art und mitreißender Predigten großer Beliebtheit erfreute".
Wenn Serientäter einen „aufgeschlossenen Eindruck“ machen
Wie Gemeindemitglieder berichteten, habe er sich als einen Priester dargestellt, "der es in Limburg unter dem früheren Bischöfe Franz-Peter Tebartz-van Elst nicht mehr ausgehalten habe": "Das machte ihn manchen gleich sympathisch". Auch über den im vergangenen Frühjahr wegen sexuellen Missbrauchs in 110 Fällen, begangen an neun Minderjährigen, zu zwölf Jahren Haft verurteilten "Pfarrer Ue." aus Gummersbach heißt es in Berichten der "Kölnischen Rundschau", er sei in seiner Gemeinde besonders deshalb beliebt gewesen, weil er "frischen Wind" gebracht und "einen aufgeschlossenen Eindruck" gemacht habe, "anders als die verstaubten katholischen Kirchenmänner, die man so kennt".
All diese Beispiele sollten nun natürlich nicht dazu verführen, hinsichtlich der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Priesterbild und Missbrauchsrisiko ins gegenteilige Extrem zu verfallen und Priester, die einen "lockeren", "niederschwelligen" Umgangsstil pflegen, unter Generalverdacht zu stellen. Diese Fälle machen jedoch deutlich, dass es kurzsichtig und sogar gefährlich wäre, sexualisierte Gewalt in der Kirche allzu einseitig mit einer sakralen Überhöhung des Priesterbildes in Verbindung zu bringen. Nicht zuletzt stellen sie damit einen gewichtigen Einwand gegen die weithin unhinterfragte Prämisse dar, die Kirche müsse, um missbrauchsbegünstigende Strukturen in ihren Reihen zu bekämpfen, um jeden Preis moderner und weltlicher werden.
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