Das Abendland hat einen schweren Stand. Spätestens als eine Dresdener Demonstration den Begriff nach einigen Jahrzehnten des politischen Schlafes wieder aufgeweckt hatte, sahen die Artilleristen der großen Medienhäuser die Zeit gekommen, diesen in Artikeln oder Radiofeatures unter Dauerfeuer zu bombardieren. Ob „Focus“, „Süddeutsche“, „Spiegel“ oder „Zeit“: kaum ein Medium, dass nach den ersten PEGIDA-Demos nichts anderes zu tun hatte, als ein Wort zu diffamieren, aus dem einfachen Grund, dass es das falsche Lager benutzte. Noch in den 1950ern hatten sich insbesondere CDU und CSU mit dem Gedanken des christlichen Abendlandes identifiziert, um eine europäische Gemeinschaft aus der Taufe zu heben; 2017 äußerte der Publizist Michael Wolffsohn in der „Süddeutschen Zeitung“: „Geistiger Müll muss beseitigt werden, wenn vom ,christlichen‘ oder gar ,christlich-jüdischen Abendland‘ gesprochen wird.“
Dass Säkularismus und Relativismus ihren Anteil an einer Skepsis gegenüber allem haben, was irgendwie christlich klingt oder christlich geartet sein könnte, ist im Grunde keine Neuigkeit: Die Definition eines Kulturraums gilt als Provokation, die Dekonstruktion als Kür in der journalistischen Welt. Die Romantik, die das christliche Abendland in sich trägt, steht im Gegensatz zur real-existierenden Brüsseler Bürokratie ohne Glaubensbekenntnis. Umso irritierender wirkte da ein Beitrag des Theologen Manfred Becker-Huberti aus dem Jahr 2016, der auf dem Nachrichtenportal katholisch.de erschien und das christliche Abendland herunterrelativierte: „Für etwas anderes als Abgrenzung taugt der Begriff ,christliches Abendland‘ nicht, er ist ein Kampf- und Ausgrenzungsbegriff, eine völlig unfundierte Fiktion.“
Es ist das eine, wenn die Presse einen Begriff schleift, der nicht in das Konzept ihrer politischen Agenda passt; es ist aber das andere, wenn Theologen oder gar Kardinäle einen Begriff schleifen, der nichts anderes als die Frucht jahrhundertelanger Arbeit ihrer Vorgänger ist. Der Chef der Deutschen Bischofskonferenz hat im Grunde letzte Woche nichts anderes getan, als eine Ansicht wiederzugeben, die sein hauseigenes Medienportal sowie weitere ungenannte Theologen im Hintergrund teilen. Vermutlich hat nur die Offenheit in der Frage, wie es Reinhard Kardinal Marx mit dem Abendland hält, die meisten Beteiligten irritiert – und nicht so sehr der Inhalt.
Marx bekannte dabei nicht nur, dass er von dem Begriff des christlichen Abendlands nichts halte, weil er diesen als „ausgrenzend“ empfand, sondern auch, weil eine solche Bezeichnung die große Herausforderung verkenne, „in Europa dafür zu sorgen, dass verschiedene Religionen mit jeweils eigenen Wahrheitsansprüchen friedlich zusammenleben“. Hellhörig machte das Statement des Kardinals im weiteren Verlauf der Veranstaltung bezüglich einer Instrumentalisierung der Religion (s. Seite 18). Marx spricht schließlich nicht als Privatmann und natürlich ist seine Aussage genau das: Instrumentalisierung. Indem Marx einen klassischen Begriff europäischer Geschichte und katholischen Selbstverständnisses zugunsten einer eher politischen, denn historischen oder theologischen Intention preisgibt, instrumentalisiert er diesen negativ.
Die historischen Fakten werden entwertet
Warum lässt ein katholischer Würdenträger einen Begriff demonstrativ fallen, obwohl rund anderthalb Jahrtausende eben dieses europäisch-christliche Haus von der römisch-katholischen Kirche von Konstantin über Chlodwig bis Stephan erbaut wurde? Man mag darin Opportunismus des Zeitgeistes sehen; tatsächlich verkauft Marx das Erbrecht der katholischen Kirche auf Dantes Göttliche Komödie, Raffaels Madonna und Palestrinas Chöre für ein Linsengericht. Denn nichts von all dem ist im Grunde ohne das christliche Milieu denkbar, in dem die abendländische Kultur aufgewachsen ist. Dass sich dabei selbst ein Spinoza von seiner jüdischen Herkunft emanzipierte, weil er über die Mennoniten und einen Ex-Jesuiten zu Descartes fand, ist eine der vielen komplizierten Geschichten dieser Vergangenheit. Schlagworte wie „Ausgrenzung“ wirken da unterkomplex, fast populistisch.
Wenn selbst der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors beklagt, es sei ein großes Versäumnis gewesen, die christlichen Wurzeln Europas nicht im Lissabon-Vertrag zu erwähnen („Wir müssen wissen, woher wir kommen“), dann erscheinen die Botschafter eines multireligiösen Europa weniger europäisch als der französische Sozialist. In dieser Lessing'schen Interpretation eines zukünftigen Europa mag dann die Aufklärung groß geschrieben sein, sie hat sich aber sämtlicher Wurzeln entledigt und lässt die Geschichte des Kontinents mit einer der größten Niederlagen des Christentums beginnen – nicht nur politisch, wie die damaligen Revolutionäre verkündeten, sondern auch in der Form eines heftigen Blutzolls im Angesicht der Guillotine oder bei katholischen Volksaufständen in der Bretagne, Venetien oder Tirol, sowie tausendfacher Zerstörung christlicher Kultur in den Königsgräbern von Saint Denis und den Trümmern von Cluny. Entspricht es wirklich dem historischen Wesen der Kirche, die eigene seelische Kontinuität zu verlieren, nur um die ganze Welt politischer Relevanz zu gewinnen? Dass der Liberalismus eine christliche Häresie ist, und sich deswegen nur in unseren (abendländischen) Breiten entfalten konnte, erkannte bereits Hilaire Belloc; dass katholische Prälaten die Häresie der eigentlichen Lehre vorziehen, zeugt dagegen von einem erschütternden Relativismus. Der Gedanke, dass eine mögliche Intoleranz gegenüber Minderheiten historische Fakten und sogar das eigene Selbstbild entwertet, war bis vor kurzem eher im Jargon derjenigen zu finden, die sich auch gegen „Hass-Sprache“ oder die Diskriminierung von Mädchen in Knabenchören einsetzten.
Aber: Ausgrenzend ist bereits das Christentum als solches, demgemäß Jesus Christus allein Weg, Wahrheit und Leben ist; niemand kommt zum Vater außer durch ihn. „Extra ecclesiam nulla salus“ gilt nur für diejenigen nicht, die niemals von der Botschaft erfahren konnten, was aber im marx'schen Idealfall des Zusammenlebens der drei abrahamitischen Religionen nicht gegeben ist. Der Erzbischof von München und Freising muss sich also neben dem Vorwurf kultureller wie historischer Unwissenheit den Vorwurf gefallen lassen, ob seine Aussagen mit der katholischen Lehre übereingehen und er damit auch sein Amt als Hirte gewissenhaft ausfüllt. Denn jedem Katholiken muss das Seelenheil seines Nächsten am Herzen liegen, ob nun getauft oder ungetauft; die reine Akzeptanz einer muslimischen Präsenz in Europa passt womöglich in die Tradition der europäischen Aufklärung, nicht aber in die eines christlichen Missionsauftrags, der über Jahrhunderte ein ungeschriebenes europäisches Manifest war. In seiner Anfangsphase war das Christentum eine Minderheitenreligion, verfolgt, ausgegrenzt, im stetigen Überlebenskampf: wie lächerlich hätte es vonseiten der damaligen Bischöfe angemutet, den Ist-Zustand heidnischer Hegemonialreligion als unumstößliches Faktum anzuerkennen?
Von den Anstrengungen damals sind auch die Christen heutiger Zeit nicht befreit, im Gegenteil: In einem Europa, das droht, als dahinsiechender Leib von den säkularen, atheistischen, neo-paganen Kräften und fremden Religionen zerrissen zu werden, hilft es nichts, diesem christlichen Abendland einen Tritt zu erteilen.
Unserer Zeit fehlen beherzte Laien und mutige Hirten, die sich gerade für dieses christliche Abendland einsetzen, die es lieben, es verteidigen, Stolz empfinden auf die alte res publica cristiana, die diesen Kontinent in seiner kulturellen Dimension erst geschaffen hat, die sich in einer Kontinuitätslinie sehen mit Missionaren wie Bonifatius, Königen wie Ludwig dem Heiligen, Kirchenlehrern wie Thomas von Aquin, Märtyrern wie Thomas More und auch – so politisch-inkorrekt es heute anmutet – Kämpfern wie den Gefallenen von Otranto. Abendland bedeutet Tradition, Abendland bedeutet Kontinuität, Abendland bedeutet Bekenntnis; darin ist es dem Katholizismus nicht unähnlich.
Dass Kardinal Marx nicht bereit ist, dieses Kreuz zu tragen, hat er – bedauerlicherweise – bereits zu anderen Anlässen gezeigt.
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