Afghansistan

Überstürzt verlässt der Westen den Ort des Scheiterns

Der katastrophale Rückzug der westlichen Zivilisation aus Afghanistan kam für viele kundige Beobachter nicht unerwartet. Es lassen sich zahlreiche Zeugnisse finden, die die kulturellen Herausforderungen eines Umgangs mit Paschtunen und anderen Stämmen des Hochgebirgslandes aufzeigen. Ein Blick in die Literaturgeschichte genügt, um die wiederkehrende Tragik unserer Ambitionen in Afghanistan zu enthüllen.
Vormarsch der Taliban
Foto: Rahmat Gul (AP) | Westliche Politik hat den hastigen Rückzug befohlen: Nach 20 Jahren Kampf um Afghanistan haben die Taliban gewonnen.

In den vergangenen Tagen und Wochen schlug die Stunde der Warner, jener politischen Kommentatoren, die schon seit Jahren die Aussichtslosigkeit der westlichen Intervention in Afghanistan betonten. Ohne aber deren Einsichten zu schmälern – ja um sie im Gegenteil sogar zu bestärken – kann man festhalten, dass bereits ein Blick in die europäische Literaturgeschichte genügt, um die immer wiederkehrende Tragik unserer Ambitionen in Afghanistan zu offenbaren: ein mysteriöser Sehnsuchtsort, fernes Ziel der Abenteurerseele und letztlich ewig unverstanden. So verausgabt sich der westliche Mensch fern seiner Heimat, stößt dabei an die Grenzen seiner Triebkraft und wird gnadenlos von der Natur und den Einheimischen für seine Hybris bestraft!

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Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts taucht Afghanistan vermehrt im Genre des Abenteuerromans auf. Zwar reiste Karl May in seinen orientalischen Erzählungen nie so weit ostwärts, seine britischen Pendants jedoch, die Afghanistan in ihren Werke thematisierten, zeugten aber von einem ähnlichen Geist. Dessen zwiespältige Haltung zu den exotisch anmutenden Einheimischen pendelte immer zwischen dem Ideal des edlen Wilden und einer zurückgebliebenen Stammesgesellschaft, der es das Licht der Zivilisation zu bringen galt. Rudyard Kiplings „Der Mann, der König sein wollte“ ist wohl das berühmteste Beispiel eines solchen Abenteuerromans. Viele der darin verarbeiteten Topoi sind alles andere als einzigartig.

Rettungswillige Opfer erzählen ihre Geschichten

Ob nun Imperialismuskritik in Form des weißen Kolonialisten, der in tiefster Abgeschiedenheit sein eigenes Reich erschafft, seine Macht missbraucht und letztlich alles verliert – man denke an Joseph Conrads „Heart of Darkness“ – oder auch die fast schon obligate, und zutiefst moralisierende Suche nach einem geheimnisvollen Schatz, der zwar gefunden aber sogleich auch wieder verloren wird – wie z.B. in Stevensons „Schatzinsel“ und darauf auch in Haggards „Quartermain“ – all das findet sich auch in anderen „dunklen Orte dieser Welt“ (Haggard), in denen der spätviktorianische Abenteurer die letzte Gelegenheit zu Entdeckung, Eroberung, Ruhm und auch zivilisatorischer Missionierung fand. In der rein passiven Rolle, die Afghanistan zugebilligt wird und in der es jedem beliebigen afrikanischen oder fernöstlichen Land gleicht, spiegelt sich das spätkoloniale Unvermögen die Einzigartigkeit dieses Landes zu erkennen. Der Abenteuerroman erfreute sich auch in der Periode sowjetischer Besatzung, sowie in den letzten 20 Jahren des Kriegs gegen den Terror, großer Beliebtheit. Die modernen Vertreter dieses Genres unterscheiden sich jedoch von ihren Vorbildern des 19. Jahrhunderts dadurch, dass Sendungsbewusstsein und die Hoffnung auf mystische Schätze – wenn überhaupt – eine untergeordnete Rolle spielen. Im Vordergrund steht nun das Abenteuer in der Fremde an sich, vor allem aber auch die Traumata von Krieg, Entfremdung und Isolation.

Das Missionierungsbewusstsein hingegen hat sich mittlerweile verselbstständigt und seine eigenen Genres, u.a. den Flüchtlingsroman, begründet. Postkolonial bewusst wird hier die Geschichte aus Sicht rettungswilliger Opfer erzählt (ein Trend, dessen Popularisierung mindestens bis zu „Nicht ohne meine Tochter“ nachzuverfolgen ist), die sich aus den Klauen vermeintlicher Rückständigkeit befreien und ihr Heil in den ideologischen Segnungen der Besatzungsmächte suchen – im jetzigen Fall den Wokeismus einer in den letzten Atemzügen liegenden Weltmacht USA.

Genderstudiengänge stießen auf wenig Gegenliebe

Wenn weder die Aussicht auf Teilhabe am britischen Commonwealth, noch auf die Partizipation am real existierenden Sozialismus den Afghanen reizvoll erschien, dann darf es nicht verwundern, dass die von den USA eingeführten Masterstudiengänge für Genderforschung in Kabul in weiten Teilen Afghanistans auf wenig Gegenliebe stießen. Im Gegenteil, sie stellen den Gipfelpunkt des Realitätsverlustes westlicher Missionierungsbestrebungen dar. Während die christlichen Missionare des Frühmittelalters sich der notwendigen Anpassung bei der Vermittlung des Christentums an die Germanen mehr wie bewusst waren (man denke an den „Heliand“), scheiterten bereits die Briten des 19. Jahrhundert daran das Naturell der rauen Bergvölker Afghanistans mehr als nur oberflächlich zu verstehen.

„Ob in der Literatur oder in der Realität - Afghanistan ist ein Ort,
an dem der Mensch des Westens an die Grenzen seiner Kräfte stößt,
an dem scheinbar andere Naturgesetze herrschen“

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Überzeugt von ihrer zivilisatorischen Überlegenheit, liefen Sie im Zuge des berüchtigten Rückzugs aus Kabul dem Gegner wiederholt ins offene Messer, in einer Mischung aus Führungsschwäche und Blindheit gegenüber der Tatsache, dass ihre eigenen Gepflogenheiten und Regeln am Hindukusch keinerlei Gültigkeit hatten. Die Aufzeichnungen von Lady Sale, „A Journal of the Disasters in Afghanistan, 1841-2“ bezeugen dies eindrücklich. Schon bald hatten die Briten begriffen, welch Schicksal ihnen in Afghanistan blüht, wie aus einer der vielzitiertesten Dichtungen Rudyard Kiplings, „The Young English Soldier“ (1890), hervorgeht: „When you're wounded and left on Afghanistan's plains,/ And the women come out to cut up what remains, / Jest roll to your rifle and blow out your brains / An' go to your Gawd like a soldier.“

Ob in der Literatur oder in der Realität - Afghanistan ist ein Ort, an dem der Mensch des Westens an die Grenzen seiner Kräfte stößt, an dem scheinbar andere Naturgesetze herrschen. Sein Mut, sein Entdeckerdrang, seine Bereitschaft über sich hinaus zu gehen – sie alle verpuffen früher oder später in der harschen Wirklichkeit Afghanistans, überwältigt von der Erbarmungslosigkeit dieser Weltgegend. Schwäche und Unachtsamkeit werden zum Verhängnis und gnadenlos bestraft. Trost findet der Mensch des Westens dort nimmermehr. Afghanistan ist jener Ort, an den wir zum Scheitern kommen, ein Elefantenfriedhof der Imperien.

Einer kam heim aus Afghanistan

 

Wie die Politik zunehmend daran scheiterte Zugriff auf Afghanistan zu haben, so schwindet auch die literarische Phantasie mit der diesem Land begegnet wird. Wo früher noch Exotik die Neugier anfachte, so erscheint Afghanistan gegenwärtig als ein trübes Ende der Welt, das mit einem Kraftakt von der Tristesse der Taliban in das Grau der Moderne gehievt werden soll.

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Der Mensch des Abenteuerromans wird in Afghanistan mit Fragen konfrontiert, die er nicht beantworten kann. Die Antworten jedoch fand die Kunst in Balladen, realistisch, poetisch und schonungslos, ob nun im “Young English Soldier” oder in Theodor Fontanes “Das Trauerspiel von Afghanistan” (1859). Fontane fasst die Tragik des britischen Scheiterns beim Rückzug aus Kabul zusammen und setzte damit fast schon prophetisch dem ewigen Scheitern des Westens in Afghanistan ein literarisches Denkmal, das dieser Tage so gültig erscheinen muss wie am Tag der Niederschrift.

„Die hören sollen, sie hören nicht mehr,

Vernichtet ist das ganze Heer,

Mit dreizehntausend der Zug begann,

Einer kam heim aus Afghanistan.“

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