Thomas nach dem Ende der Vorherrschaft des Thomismus als maßgebende Kirchendoktrin ist wie Marx nach dem Untergang des realen Sozialismus. Erst kürzlich war so zu lesen. So sehr Vergleiche bekanntlich hinken, so sehr steckt in ihnen ein Körnchen Wahrheit. In beiden Fällen bleibt „nur“ der Denker übrig. Die Kraft der Argumente entscheidet jetzt, nicht mehr die Macht politischer und juristischer Durchsetzungs- und Sanktionsmöglichkeiten.
Solche Instrumentalisierung in der politischen wie kirchenpolitischen Praxis ist überwiegend als schädlich zu werten. Wenn man aus einem denkerischen Ansatz ein System macht und es für die Praxis umfunktioniert, so ist damit stets eine gewisse Immunisierung dieser Vorstellungen verbunden.
Nun erkannte man wohl auch im 19. Jahrhundert, als Thomas das Zentralgestirn der thomistischen Renaissance geworden war, den Unterschied zwischen dem hochmittelalterlichen Mönch und seinen Gedanken einerseits und den Erfordernissen späterer Zeiten, in denen er rezipiert wurde, andererseits. Im Neuthomismus war der Imperativ der Moderneabwehr entscheidend. Liberalismus, Sozialismus und Staatsabsolutismus arbeiteten Neuthomisten wie in diesem Kontext öfters als Abkehr von der gottgewollten Ordnung heraus. Anders hingegen im 13. Jahrhundert: Die Hochschätzung des Gewissens bei dem Dominikaner sowie seine Versuche der Leib-Seele-Integration, im Unterschied zur überlieferten Trennung beider Bereiche, stießen auf heftigen Widerstand der damaligen Orthodoxie. Daher verwundert seine Verurteilung nicht. Allein die Aristoteles-Aufnahme in seiner Zeit darf als mutige Leistung gelten, die man später nur schwer nachvollziehen konnte. Schließlich galt der griechische Philosoph als Heide, der nach damaligen Maßstäben nicht Lehrer des Denkens sein konnte. Die konservativen Zeitgenossen, beispielsweise der Franziskaner Bonaventura, waren nicht in der Lage, sich mit der Nobilitierung des Griechen abzufinden, und befürchteten sogar eine Verweltlichung. Diesem Denken „rechts“ von Thomas stand der „Linke“ Siger von Brabant gegenüber. Er hielt jene Teile des Aristoteles hoch, die offen gegen das christliche Glaubensbekenntnis verstoßen, etwa die Meinung, die Welt sei ewig und unerschaffen. Diese Häresien lehnte Thomas ab. Dennoch verstummten die Einwände auch dann nicht, als sich herausstellte, dass die philosophisch-vernünftige Denkmethodik von Glaubensaussagen, etwa die kirchliche Sicht über die menschliche Seele, durchaus getrennt werden konnte. Thomas differenzierte sehr genau in diesen Punkten. Er widersetzte sich auf diese Weise einer pauschalen „Taufe“ des von ihm als Meister Verehrten.
Die innerkatholischen Kontroversen im größeren Stil über Thomas sind längst Geschichte. Was bleibt im Hinblick auf philosophische, näherhin staatstheoretische Diskussionen über den Aquinaten in der unmittelbaren Gegenwart? Dieser Frage geht ein Band in der von dem emeritierten Münchner Politikwissenschaftler Rüdiger Voigt herausgegebenen Reihe „Staatsverständnisse“ nach. Die bisher erschienenen Beiträge leisten wichtige interdisziplinäre Beiträge zur politischen Theorie.
Die „Beiträge zum Staatsverständnis des Thomas von Aquin“, ediert von Rolf Schönberger, umfassen drei Abschnitte, die das staatstheoretische Konzept im umfangreichen Werk des hochmittelalterlichen Philosophen erörtern. Für Thomas handelte es sich nicht um autonome Bereiche, wie seit der frühen Neuzeit üblich, sondern um Passagen innerhalb der praktischen Philosophie. Dem ersten Teil „Ausgang von zentralen Werken“ folgt der zweite, der überschrieben ist „Prinzip und Bedingung des Staates: Recht und Macht“. Der abschließende Part stellt Überlegungen zu „Thomas und die Moderne“ an.
Die grundlegende Abhandlung des Thomas zu Angelegenheiten des Politischen, möglicherweise von seinem Schüler Ptolomeus von Lucca vollendet, trägt den Titel „De regimine principum“. Er verfasste die Schrift wohl anlässlich der Krönung des Königs von Zypern. Darüber hinaus ist Thomas' Kommentar zur „Politik“ des Aristoteles zu erwähnen. Beide Texte werden von Jürgen Miethke, einem führenden Mittelalterexperten, und Bernhard Stengel fundiert erläutert.
Von den Beiträgen zu „Recht und Macht“ ist besonders der Aufsatz des Münchner Politologen Dirk Lüddecke über die Bedeutung und Funktion des Gesetzes bei Thomas hervorzuheben. Gesetz ist bei Thomas nicht nur äußere Handlungsanweisung, sondern steht in wohlbestimmter Hinsicht in engem Bezug zur Vernunft. Dieses Verhältnis wird bei Thomas akribisch herausgestellt. Lüddeckes Untersuchung analysiert in Kürze das seit langer Zeit verminte Gelände, welches Verhalten naturrechtlich fundiert ist und welches nicht. Besonders umstritten war und ist die Frage, ob und inwiefern das konkrete Handeln rückgebunden ist an lex naturalis und lex aeterna, das natürliche Gesetz und das ewige Gesetz, das mit Gott identisch ist.
Hanns-Gregor Nissing stellt in seinem Beitrag die Ausdifferenzierung von geistlicher und weltlicher Sphäre bei Thomas dar. Diese Unterscheidung ist nicht im geringen Maß der Rezeption des Aristoteles geschuldet, die – zugespitzt formuliert – ein Stück Autonomie in die geistliche Welt des hohen Mittelalters gebracht hat. Sie ist um einiges komplexer als die des frühen Mittelalters, in der der politisch-gesellschaftliche Daseinssektor noch weithin als Folge der Sünde gedeutet worden ist. Hier wirkten die Impulse des augustinischen Werkes „De civitate dei“ noch Jahrhunderte nach.
Wie fortschrittlich der Kirchenlehrer auch aus weit späterer Perspektive gesehen werden kann, zeigt Nissing am Beispiel von Thomas' maßgeblicher Bezugsgröße: Nicht Bischöfe und Kaiser sind basale Ausgangspunkte zur Bestimmung der Relation von geistlicher und weltlicher Gewalt, sondern der einzelne Mensch „in der naturhaften, zielgerichteten Dynamik seines Strebens und Handelns“. Ein solcher Ansatz geht weit über den zeitgenössischen ordo hinaus, obwohl man die Strukturen sprengenden Implikationen damals zumeist nicht erkannt hat.
Im dritten Abschnitt arbeitet Claus Dierksmeier die akribischen Darlegungen des Thomas zu den hochaktuellen Fragen der Gerechtigkeit heraus. Besonders interessant ist die Sicht des Privateigentums. Im Grundsatz wird dieses von Thomas befürwortet, im Detail jedoch nimmt Thomas etliche Fälle an, in denen das Gemeinwohl Vorrang besitzt. Auch in diesem Kontext sticht die Differenzierungsfähigkeit des Aquinaten hervor.
Abschließend betrachtet Günther Mensching die modernen Elemente in der Staatsauffassung des Thomas. Diese fanden bereits in früheren Epochen begeisterte Aufnahme. So begründete der Sozialethiker Peter Tischleder in den frühen 1920er Jahren die Wende des Hauptstromes des politischen Katholizismus hin zur Weimarer Republik mit dem Hinweis auf Thomas, der die prinzipielle Indifferenz der Staatsformen Monarchie, Aristokratie und Demokratie hervorkehrte. Die Botschaft Tischleders war klar: Ein Katholik konnte sich durchaus diplomatisch verhalten und der Volksherrschaft anhängen. Auch in diesem Zusammenhang zeigt sich, wie Mensching exponiert, dass Thomas mehr als eine „Fürstenethik“ entworfen hat, die seiner Zeit durchaus angemessen gewesen wäre. Der Aquinate dachte indessen weiter. Er markierte sogar „einen Neuanfang der politischen Theorie im Mittelalter“. Gerade seine Vorstellungen zur Autonomie, die allen Menschen zukommt, sind so zukunftsträchtig wie nur möglich. Gleiches gilt für seine Auslegung der Freiheit, die Tyranneien aller Varianten einen Riegel vorschieben wollte. In der Gedankenwelt des Thomas sind, ungeachtet aller zeitgebundenen Bestandteile, geistige Schätze verborgen, die erst durch interpretatorische Leistungen zu heben sind. Dazu leistet der von Schönberger herausgegebene Sammelband maßgebliche Arbeit.
Rolf Schönberger (Hg.): Die Bestimmung des Menschen und die Bedeutung des Staates. Beiträge zum Staatsverständnis des Thomas von Aquin (Staatsverständnisse, herausgegeben von Rüdiger Voigt, Bd. 103). Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017, 248 Seiten, EUR 44,–
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